Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 18.05.1898: Über das Oblaten-Sein

Meine Freunde, es geht darum, dass wir Ordensleute werden. Der wertvollste Schatz, den jeder hat, ist die Gabe, die ihn zu dem macht, was er sein soll. Wenn ein Mensch auf Grund seines Berufes etwas ist, seine Amtspflichten aber nicht erfüllt, dann ist er kein Mensch, sondern eine Drahtpuppe, die den verwirklichten Mensch zu vertreten hat. Hält man andererseits darauf, einzig und allein seinen Verpflichtungen nachzukommen, ist man also ein Pflichtmensch, dann lässt sich auf der Welt nichts Besseres finden als das.

Lamartine schrieb eine Notiz über Bossuet, die mit den Worten beginnt: „Er war ein Priester. Betrachtet ihn nur in allen Situationen seines Lebens. Auch die fruchtbarste Phantasie kann in ihm nichts anderes feststellen.“ Ebenso sollte man das von uns sagen können: Es sind Ordensleute.

Auf meiner Reise mit P. Deshaires nach Rom besuchten wir die Kirche St. Agnes und stiegen auch die Katakomben hinunter. Da stießen fünf bis sechs Kleriker zu uns in betont bescheidenem Gang und einer Haltung, die allgemein erbauten. „Das sind keine Studenten der römischen Kollegien und Universitäten“, raunte man uns in unserer Umgebung zu. „Sie gleichen ihnen in keiner Weise.“ Wer waren sie also? Wir erkundigten uns und erfuhren, es waren Schüler von St. Sulpice, die zu der erst vor kurzem in Rom gegründeten Prokur der Oratorianer gehörten. So soll man auch uns, meine lieben Freunde, überall als Oblaten erkennen können. Dafür muss man aber ein echter Oblate sein.

Tritt man ins Noviziat ein, sollte uns nur der eine Gedanke beherrschen: ein guter Oblate zu werden. In der ersten Zeit unserer Ordensgründung stieß mehr als einer zu uns in der Absicht, so leichter zur Priesterweihe gelangen zu können. Anschließend verließen sie uns wieder. Dank der Gnade Gottes sind alle, die heute zu uns kommen, ehrlich und gut disponiert. Darum lasst uns alle daran arbeiten, ganze Oblaten zu werden. Man sagt von den Heimsuchungsschwestern von Troyes, Rom, Neapel, Paris und dem Libanon, sie sähen einander gleich. Es sollte auch unser Ehrgeiz sein, dass wir einander gleichen. Und da das Äußere nur die Offenbarung des Inneren ist, muss uns eine innige Liebe zum Oblatenleben durchdringen. Das allein gibt den Ausschlag, wenn wir nicht versagen wollen, in der Sendung, die die Kirche uns übertragen hat, als sie uns approbierte. Um unser Glück sicherzustellen, ist das unumgänglich notwendig. Der Oblate, der nicht wirklich Oblate ist, gleicht einem Mann, der einen schlecht geschneiderten Anzug trägt, auf der einen Seite zu lang, auf der anderen zu kurz. Entweder erstickt er darin oder es zieht auf allen Seiten. So ein Aufzug ist für euch selbst peinlich und für die anderen lächerlich.

Oder muss man Angst haben, Oblaten zu sein und auf den ersten Blick als solcher erkannt zu werden? Oh nein, wir sind gar nicht so schlecht angeschrieben. Der hl. Franz v. Sales hat als Oblate gelebt. Er ist das Modell, das die Oblaten reproduzieren sollen. Und der hl. Johannes? Lest nur sein Evangelium und seine Briefe! Und der hl. Paulus, studiert ihn von Anfang bis Ende, da findet sich nichts als das wahre Leben eines Oblaten. Warum aber nicht noch höher? „Ecce homo!“ Da habt ihr das Modell, das wir berufsmäßig wiedererstehen lassen, fortsetzen und verewigen sollen. In Menschengestalt ist er unten nicht mehr zu sehen und spricht nicht mehr zu den Volksscharen. Da kommen wir Priester und Ordensleute, um ihn fortzusetzen… An Stelle unseres Herrn Jesus Christus sollte man uns sehen können. Das ist nicht mehr ein ganz richtiges Gefühl, das viele im Herzen deutlich spüren. Einer unserer Patres sagte mir, wenn er seinen Oberen sehe, glaube er, unseren Herrn selbst zu sehen.

Da fiel mir eine schöne Ausgabe von Boileau in die Hände. Als die königliche Approbation ihm ein erstes Mal verweigert wurde, um seine „Art poetique“ zu veröffentlichen, schrieb Boileau stolz an Minister Colbert, er werde sein Gesuch nicht erneuern, da er auch so hoffe, die Genehmigung bald zu erhalten, obwohl ihm persönlich fast nichts daran liege… Und neben diesem so hochmütigen Brief an den allmächtigen Minister König Ludwigs XIV. folgte ein Brief an seinen Beichtvater und Freund, einen Jesuitenpater, in Ausdrücken tiefster Ehrfurcht. Nachdem er ihm seine überaus kluge Ansicht über eines seiner Werke ausgedrückt hatte, die der Jesuit von ihm erbeten hatte, versicherte er demütig, er sehe sich außer Stande, ihm die Gefühle der Hochschätzung und Dankbarkeit auszudrücken, die er für den Charakter und die Güte empfinde, die der Pater ihm erwiesen habe.

So begreifen und schätzen große Geister den Priester, der wahrhaft ein Diener Gottes ist. Das ist etwas ganz anderes als ein Diener (Minister) selbst der größten Könige der Erde. Solche Gesinnungen darf man aber nicht aus Eigensucht hegen, da es ein großer Fehler ist, alles auf sich selbst zu beziehen und seinen Wert auf Empfindungen und Eindrücke herabzuwürdigen. Unser Wert ist der Wert des lieben Gottes, der sich uns hingibt und sich durch uns anderen schenkt.

Seht nur, wie im Priesterseminar die jüngsten ernst und von ihrer klerikalen Würde ganz durchdrungen sind. Das ist aber kein Stolz, können sie doch von sich mit Recht sagen: Wir tragen Gott in uns. Einen großen Respekt und hohe Achtung schulden wir also der Rolle, zu der wir berufen wurden. Dieser Gedanke möge uns nie verlassen. Das soll uns aber in der Erholungszeit nicht hindern, fröhlich zu sein wie die hl. Regel es uns nahelegt. Sagen wir mit dem hl. Bernhard oft zu uns: Wozu bist du gekommen? Sind wir gekommen, um ein ruhigeres Leben zu führen, unbeschwerter von den Verdrießlichkeiten des Weltlebens, in dem wir nur strikt unsre Pflicht tun und sonst nichts? Oh nein, wenn ihr überlegt, dass ihr Gott in euch tragt, dass er sich euer bedient wie eines verlängerten Armes, um seine Gnaden und Hulderweise auszuteilen, welche Ehrfurcht müsst ihr dann vor euch selbst haben! Haltet darüber dann und wann eine Betrachtung!

Am Ende seines Lebens hatte sich unser Seminarregens Lejeune in eine Kommunität in Paris zurückgezogen. Ich wollte ihm einen letzten Besuch abstatten. Doch schon konnte er nicht mehr sprechen und man verweigerte mir den Zutritt. Ich wandte mich an die Oberin. Doch sie meinte ebenfalls, es sei nicht mehr möglich. „Sagen Sie ihm“, bat ich sie, „P. Brisson sei da.“ Sie kommt wieder und sagt: „Er machte ein Zeichen, dass er Sie sehen wollte.“ Man führt mich zu ihm. Ich begrüße ihn und drücke ihm die Gefühle des Klerus von Troyes aus. Dann bezeige ich ihm meine liebende Dankbarkeit in besonderer Weise, weil ich einer seiner bevorzugten Schüler war. Bevor ich ihn wieder verließ, drückte ich ihm die Hand und wiederholte die Worte, die er uns mit seiner tiefen und ernsten Stimme so oft gesagt hatte: „Nichts als Ernst, Maß und Frömmigkeit zeige ihr Äußeres.“ Sein Gesicht erhellte sich, eine ganze Vergangenheit, und eine schöne Vergangenheit, lebt auf in diesen Worten…

Wenn man im Seminar so starkes Gewicht auf dieses Wort legte, wie ernst müssen dann wir es nehmen! Unser Wort, unser Tun und unsere ganze Haltung sollten diesen Eindruck erwecken. Dadurch wirkt man unglaublich viel Gutes und bringt die Seelen dahin, sich ohne Vorbehalt Gott zu schenken. Zu diesem Zwecke müssen wir aber erst selbst die Gute Meinung treu üben, jeden Tag uns in den Tugenden des Gehorsams und der Armut bewähren. Das ist der Weg des Glückes.

D.s.b.