Kapitel vom 23.01.1895: Über die Macht, Sünden zu vergeben
Nach der Vollmacht, die hl. Messe zu feiern, überträgt der Bischof dem Priester die Gewalt, Sünden nachzulassen. Diesbezüglich gibt es einen Ausspruch sämtlicher Theologen: Im Beichtstuhl vertritt der Priester die Stelle Gottes. Das ist ein hohes Wort: Gottes Stelle vertreten, tun, was Gott täte. Das erfordert vom Priester eine zarte Gewissensreinheit, wie auch eine sehr große Hellsichtigkeit, ein gutes Urteil, damit er seine Beichtkinder auf dem für sie geeigneten Weg führe. Der Priester muss also nicht nur rein, er muss auch wohl unterrichtet sein. Er soll über ein gesundes Urteil verfügen, damit er nicht nach seinen persönlichen Ansichten handelt. Beichthören ist von allen priesterlichen Diensten der fruchtbarste, aber auch der delikateste, weil der Priester her Gefahr läuft, sich zu täuschen, die Seelen falsch zu leiten und seiner eigenen Natur nachzugeben.
Der Priester muss sich hier genau nach den Bestimmungen der Theologie richten. An ihm ist es, die Geistesverfassung seiner Beichtkinder zu erkennen und ihnen klar den Weg zu weisen, den sie gehen sollen. Der hl. Franz v. Sales gibt den Beichtvätern ausgezeichnete Ratschläge. Aber er sprach zu einer Zeit, wo auch die schweren Sünder noch zur Beichte kamen. Darum empfiehlt er vor allem Sanftmut und Liebe, um den Beichtenden die Härten des Bußsakramentes zu mildern. Heutzutage wäre man vielleicht geneigt, diesen Ratschlägen weniger Bedeutungen beizumessen. Vergessen wir jedoch nicht, dass die Liebe eine wesentliche Tugend des Beichtvaters sein muss.
Vor allem in den Beichten der Frauen und Mädchen besteht eine Gefahr für den Priester. Da muss der Beichtvater eingedenk sein, dass er Gottes Stelle vertritt und er sich infolgedessen in den Grenzen der Klugheit halten soll. Er muss sich über sich selbst erheben, damit er zu weisen Ratschlägen fähig ist. In seinen Worten darf es nichts geben, was allzu sehr nach Freundlichkeit und menschlicher Zuneigung klingt. „Man soll Vater und Mutter seiner Beichtkinder sein“, sagt der hl. Franz v. Sales. Vergessen wir dieses Wort nicht.
Der Beichtvater muss außerdem ein frommer und glaubensstarker Mann sein. Er ist verpflichtet, sich auf der Höhe seiner Sendung zu halten. Seine Heiligkeit soll ja auf seine Beichtkinder abfärben. „Ihr wollt das Gold der göttlichen Vollkommenheit“, sagt Franz v. Sales. „Geht zum Goldschmied, dem heiligen Priester, und ihr werdet das Gold der göttlichen Liebe finden.“ Dem Priester muss Frömmigkeit und Heiligkeit innewohne, damit er davon an seine Beichtkinder mitteilen kann. Niemand kann geben, was er nicht hat. Darum hülle sich der Priester ganz in Glauben und Gottesliebe ebenso ein wie in Umsicht und Klugheit und er vermeide alles, was von ihm selbst ausgeht.
Der eine sagt: Ich bin sanft und von Natur zur Barmherzigkeit geneigt. Achtung: ich vertrete Gottes Stelle, muss also meiden, was meiner Natur entspringt. Das zweite ist allzu persönlich gefärbt, liebt seine eignen Ideen und hängt an seinem eigenen Urteil. Alles möchte er nach seinem persönlichen Geschmack ausrichten. Ein dritter schließlich ist streng und rigoros veranlagt… Von diesem persönlichen Geist sollte sich jeder freimachen und mit großer Losgeschältheit von Charakter und Personalität vorgehen. Denn immer, wenn ein Priester aus eigenem Antrieb handelt, geht Gott fort.
Eine Seelsorge, die in diesem Geist arbeitet, bringt Furcht. Der hl. Franz v. Sales besteht im Direktorium vor allem auf diesem Gedanken. Das allein ist das große Heilmittel für die Seelen. Was bedeutet denn die derzeitige Allmacht der Beichtväter über ihre Beichtkinder? Besitzt er etwa eine vollständige und umfassende Autorität über die Seelen, die er leitet? Nein, sondern er übt lediglich die Vollmacht Gottes über sie aus. Das Geheimnis der hl. Beichte liegt darin, den inneren Zug der Seelen zu erkennen und sie auf dem Weg zu führen, der für sie passt. Das heißt, Gott handeln lassen und die Seelen dahin bringen, dass auch sie Gott allein zum Zug kommen lassen. Der Beichtvater ist also nur dazu da, zu helfen und zu stützen. Er hat zum Beispiel nicht das Recht, einem Mädchen in der Familie zu sagen: Tun Sie das oder das! Das ist nicht seine Aufgabe. Ebenso wenig wie er in einer Ordensgemeinde sich in die Rechte der Oberin zu mischen und sich ein absolutes Recht über die Ordensfrauen anzumaßen hat. Was die hl. Kommunion z.B. betrifft, ist es Sache des Beichtvaters, sie zu erlauben oder zu verbieten. Daraus folgt aber nicht, wie es gewisse behauptet haben, dass die Oberin nichts mehr zu sagen hat und der Beichtvater die volle Autorität über die Nonnen ausübt. Das wäre ein Irrtum.
Der Beichtvater ist der Vertraute des Beichtkindes, das ihm seine Fehler anvertraut und ihn um Rat bittet. Aber ich wiederhole, er ist nicht Herr dieser Seele. Er ist nur Helfer. Als ich in der Heimsuchung beichthörte, gab die Gute Mutter ihren Untergebenen nie die Erlaubnis zu kommunizieren. Sie fragte immer den Beichtvater um seine Meinung. Wollte eine Schwester bei ihr beichten, so sagte sie zu ihr: „Das gehört nicht zur Seelenleitung und geht mich nichts an. Gehen Sie zu Ihrem Beichtvater.“ Das ist der wahre Sinn der kirchlichen Lehre.
Eine Bemerkung möchte ich euch unbedingt in diesem Zusammenhang machen: verrennt euch nicht allzu sehr in eure eigenen Ideen und glaubt nicht, ihr hättet die Weisheit und Wissenschaft eingegossen bekommen. Ihr seid jung und wollt etwas durchsetzen. Ihr werdet älter und ändert eure Meinung. Ihr habt zu einer Ordensgemeinde seelsorgerliche Beziehungen: lasst eure eigenen Ideen beiseite und haltet vor allem zur treuen Beobachtung der hl. Regel an. Tut ihr mehr oder weniger als die Ordensregel verlangt, dann zerrüttet ihr und löst auf und erreicht gar nichts. Schützt die Autorität und gebt ihr recht. Schafft Einheit und vermeidet jede Spaltung. Vor allem geht bei all eurem Tun mit großer Losschälung von euch selbst zu Werke: an diesem Kennzeichen soll man die Oblaten kennen.
Betrachtet den Pater de la Charie, den Seelsorger von St. Charles. St. Charles hat seine Tradition, es hat einen Direktor, der wahrlich nicht der angenehmste Mensch ist. Die meiste Zeit mischt er sich in die Rechte des Hausgeistlichen ein. Pater de la Charie schließt so gut wie möglich die Augen und widmet sich so gut er kann den jungen Leuten. Darum genießt er hohes Ansehen bei allen, und St. Charles erfreut sich eines blühenden Lebens. Mehrere Geistliche vor ihm hatten Misserfolg, sie widersetzten sich und trotzten. Herr Legentil sagte mir vor seinem Tod: „Die Oblaten allein konnten dieses Werk retten.“ Hat sich P. de la Charie dadurch etwa selbst herabgewürdigt? Hat ihn das in den Augen der anderen erniedrigt?
Lassen wir also unsere eigene Person aus dem Spiel! Tun wir das gut und selbstlos, was wir zu tun haben. Wenn wir uns ehrlich sagen können, dies und das habe ich zu erledigen, ich will es mit ganzem Herzen tun, dann werden wir gute Arbeit leisten. Will man aber dies oder jenes abschaffen, sich auf etwas versteifen oder sonst wie seinem eigenen Kopf folgen, schafft man gar nichts, ja richtet mitunter sogar Unheil an.
Nichts ist groß und nichts vollkommen, als was in diesem Geist getan wird. Warum hatte die Gute Mutter solch einen tiefgehenden Einfluss? Gerade deshalb. Immer wenn man sie vor einem Unternehmen um Rat anging, sammelte sie sich zuerst, um ihre eigene Person auszuschalten, dann gab sie eine Antwort, also nicht ohne vorher sich heimlich mit Gott besprochen zu haben. Handeln wir ebenso und wir werden dabei sehr heilig werden.
