Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 10.01.1894: Haben wir alle ein richtiges Gewissen?

Vor dem Kapitel möchte ich euch ein kurzes Wort sagen. Es handelt sich nicht um etwas Neues, sondern ich möchte euch meine eigene und auch eure Schuld bekennen. Wenn ich die Notizen vergangener Zeiten durchlese und die Vorsätze der Gegenwart, wenn ich die Meinung all jener anhöre, die mit uns in Verbindung stehen, was sie von den Werken der Oblaten des hl. Franz v. Sales halten, muss ich mir vorwerfen, dass ich nicht oft genug unser Ziel ins Auge gefasst habe, dass ich nicht genug und nach dem ganzen Sinn des Wortes ein Oblate bin. Sind wir wirklich im Reinen mit unserem Gewissen? Leben wir im Einklang mit der hl. Kirche, die auf uns hofft? Sie hat unsere Geburt gesegnet als einer Kongregation, die ihren Platz in der christlichen Gesellschaft einnehmen und ihren Einfluss ausüben soll. Auf unseren Schultern ruht eine schwere Verantwortung. Was die Gute Mutter geschaffen hat, ist unser Erbe, und das müsste zwangsläufig in der Kirche Gottes eine starke Wirkung hervorrufen. Alle sagen und wiederholen ohne Unterlass. Und wir, wir müssen unser Leben auf ein Niveau erheben, das uns würdig und fähig mach, ein gleiches Werk zu vollbringen.

Was ist demnach zu tun? Jeder von uns muss treuer werden, jeder sollte sich mit Leidenschaft seinen Pflichten hingeben, die Sendung erfüllen, die uns anvertraut wurde. In zunehmendem Maße spüre ich in allen Briefen, die ich empfang, bei allen Personen, mit denen ich zusammenkomme, das große Vertrauen in das Talent, das Gott uns ausgehändigt hat, ein kostbares, goldenes Talent. Das behaupte ich nicht aus Eigenliebe, ich erliege keinen Illusionen und Träumereien. Ich bin zutiefst überzeugt, dass sich da Reichtümer in unseren Händen finden, über die kein anderes Institut verfügt und wie ihr sie nirgendwo im Leben der Kirche und des Ordensstandes entdecken könnt. Bleiben wir doch nicht kalt und blind gegenüber solchen Schätzen. Die Gute Mutter sagte es oft – und wie recht hatte sie damit – dass die Erbsünde mehr die Intelligenz beeinträchtigt hat als den Willen. Der Mensch sei mehr unwissend als bösartig. Und wir nehmen leider weitgehend teil an dieser Unwissenheit, an dieser Verwundung unseres Verstandes und Urteils. Tun wir doch alles, damit Gott uns die Wahrheit offenbare, ringen wir um die Gnade, klarer zu sehen und zu erkennen.

Ich empfehle mich eurem Gebete, dass der liebe Gott mir verzeihe, wenn ich an der Nachlässigkeit mitschuldig geworden bin, dass wir den göttlichen Absichten bis jetzt nicht ganz entsprachen. Und ich meinerseits will für euch beten, dass er euch helfe, die Fehler wieder gutzumachen, die mehrere von euch vielleicht begangen haben, indem sie nicht mit der nötigen Treue und Hochherzigkeit mit der Gnade mitgewirkt haben. Pflegen wir diese geistige Arbeitsgemeinschaft, um die Vergangenheit zu sühnen. Und dann gehen wir froh an die Arbeit und versehen wir mit besten Kräften unsere apostolischen Werke, den Klassenunterricht und die Aufsichten. Zeigen wir uns auf der Höhe der uns übertragenen Sendung! Nehmen wir die Mühseligkeiten, Demütigungen und Strapazen des Lehrberufes, der Seelsorge und jeden Amtes tapfer auf uns! Seid, ja seien wir alle ganz treu, damit wir vermeiden, was Gott verhüte, dass die Gabe Gottes von uns genommen werde und durch unser Verschulden auf andere übergehe!

Zur Bekräftigung des hier Ausgeführten brauchen wir, liebe Freunde, nur einige der zahlreichen Briefe durchzulesen, die uns zum Neuen Jahr zugegangen sind. Der Jesuit Kardinal Mazella, unser hoher Protektor, der die Satzungen der Oblaten und Oblatinnen approbiert hat, schreibt uns sehr schöne Gedanken, die beweisen, wie gut er die Lage und die Verpflichtung unserer Kongregation versteht. Schlagen wir aus diesen Empfehlungen Kapital. Erfasst, welcher Genossenschaft ihr angehört und worin eure Arbeit besteht. Der Generalvikar, H. Pelgé, der Bischof von Basel, der Bischof von Paneas, der Erzbischof von Lyon, der Koadjutor vom Kap, Rooney, Kardinal Parocchi, sie alle schätzen und loben einmütig unsere Sendung. Wenn alle das gleiche sagen, muss doch etwas dran sein. Darum müssen auch wir dieses Etwas erkennen. Wir kommen nicht daran vorbei, ganze Ordensleute zu werden. Wir müssen ganz im Übernatürlichen, in der Wahrheit leben. In diesem Element müssen wir uns wie der Fisch im Wasser bewegen. Bitten wir den lieben Gott um das nötige Licht.

Ich erhalte viele Dankbriefe für wahrhaft wunderbare Heilungen, für geistliche und zeitliche Hilfen, die auf die Fürbitte der Guten Mutter geschahen. Auch hier lässt sich ein Zusammenklang feststellen, eine Übereinstimmung, die nachdenklich stimmt und selbst die Misstrauischsten zur Überzeugung bringt: hier muss etwas Reales zugrundeliegen. Insbesondere steht da eine Doktrin vor uns, so inhaltsreich, umfassend und praktisch, dass sie von allen ohne Ausnahme mit Genuss angenommen wird. Jedermann findet zu ihr Zugang: Kinder, Gelehrte, sogar Hottentotten. Jeder findet in ihr, was er braucht. Mit frohem und leichtem Herzen wendet man sich ihr zu. Hier schöpft man, was wahr, gut und angemessen ist. In diesem Element lässt es sich angenehm bewegen und frei atmen. Hier findet man sich in Gesellschaft des lieben Gottes, unseres Herrn und seines Evangeliums. Man spürt deren Gegenwart, heftet sich an sie, liebt sie mit ständig zunehmendem Eifer und Glut des Willens.

D.s.b.