Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 25.03.1891: Über die Attraktivität des Hl. Geistes

Wir haben damit begonnen, uns über die Betrachtungsmethoden zu unterhalten. Ziehen wir die Methode unseres hl. Gründers allen anderen vor! Die anderen Wege sind sicher nicht schlecht, aber für uns unpassend. Sie setzen nämlich viel Verstand, ja sogar Philosophie voraus. Zum Erfolg dieser Methoden kommt man aber erst auf indirektem Wege. Hat man sich redlich bemüht, zu betrachten und Überlegungen anzustellen, so schenkt der liebe Gott schließlich das Gefühl, dass wir zur Vereinigung mit ihm gelangt sind und unser Herz sich ihm vertrauensvoll öffnet. Und das ist ja das Ziel allen inneren Betens. Der liebe Gott schenkt dies aus Gnade, um unsere Anstrengung zu belohnen. Die Anstrengung und die Überlegung allein würden dieses Ziel aus sich aber nicht erreichen. Man kommt zum lieben Gott nur mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand: Gott schaut aber auf das Herz!

Unser hl. Stifter hingegen will, dass man nach seiner Methode vorgehe und nach guten Büchern desselben Geistes, sich vor allem aber nach dem Zug der Gnade und des Hl. Geistes richte: in diesen zwei Worten liegt das ganze Geheimnis der Betrachtung.

Die Betrachtung, das innere Gebet, ist eine Unterhaltung der Seele mit Gott. Dieses Zwiegespräch kann nicht bei jedermann den gleichen Charakter annehmen, weil nicht jeder dem lieben Gott dasselbe zu sagen hat. Immer, wenn jemand sich innerlich angetrieben fühlt, mit Gott zu sprechen, wenn er sich mit ihm durch diesen Gedanken oder jene Herzenserhebung verbinden will, müssen wir uns wohl hüten, ihn davon abzuhalten. Herr Chevalier erzählte uns von einem Mann, einem Frachtfuhrmann, der von Troyes bis Lyon seine Betrachtung hielt: Zehn bis fünfzehn Tage lang. Worüber? Auf dem Hinweg sann er über die erste Hälfte des Vaterunsers nah bis zur Bitte: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Auf dem Rückweg fuhr er fort mit der Bitte: „Unser tägliches Brot gib uns heute, etc.“ Indem er so seinem inneren Zug folgte, machte er bestimmt eine ausgezeichnete Betrachtung.

Was der liebe Gott in jeder Seele am meisten liebt, ist natürlich das, was er selbst in sie hineingelegt hat. In einer mangelhaften Lebensbeschreibung des hl. Aloysius von Gonzaga las ich, dass er vor seinem Eintritt ins Noviziat seinem inneren Zug gemäß betrachtete, ein wenig auf „Gut Glück“. Sein Novizenmeister wollte ihn dazu bringen, nach seiner – des Novizenmeisters – Methode zu betrachten. Wenn das stimmt, und der Heilige zu diesem Zweck die Anstrengungen machte, die sein Lebensbeschreiber schildert, dann kann ich seine furchtbaren Kopfschmerzen nur zu gut verstehen, die sein Leben abkürzten und ihn so früh hinrafften.

Prüft also gut die Seelen, die euch anvertraut sind, um ihren inneren Zug zu erkennen und was sie zu Gott führen kann, und bestärkt und verankert sie darin immer mehr. Ich kannte ein junges Mädchen, das inzwischen verheiratet und Mutter einer unserer ehemaligen Schülerinnen ist. Sie war mein Beichtkind und von Beruf Arbeiterin. Eines Tages fragte sie mich, was sie tun solle, um ihren Vorsätzen treu zu bleiben. Ich erkundigte mich, woran sie gern denke. Sie sagte: „An den Sätze.“ „Gut“, erwiderte ich, „dann denken und streben Sie unablässig nach dem Himmel! Arbeiten Sie für den Himmel.“ Das Mädchen führte dank diesem Gedanken, der sie stets begleitete, dank dieser Art zu betrachten, ein sehr christliches und tugendhaftes Leben. Es war der schönste Typ eines christlichen Mädchens, den man sich vorstellen kann. In der Ehe machte sie ihren Mann glücklich und erzog ihre Kinder vorbildlich. Alles kraft dieses kleinen Wortes des hl. Franz v. Sales: „…mehr noch nach dem Zug der Gnade und der Führung des Hl. Geistes.“ Entscheidend also für die Formung und Leitung der Seelen ist: allezeit dem Zug der Gnade folgen und hüten, was der Hl. Geist ihnen schenkt. Löscht den Geist nicht aus!

Jeder mache sich also daran, den inneren Zug seines eigenen Herzens wohl zu erkennen, um davon für sein inneres Beten zu profitieren. Und haben wir eine Seele zu führen, so geschehe es stets in diesem Geist. Über diesen Punkt möchte ich noch einen Gedanken sagen: Wir tragen eine ungeheure Verantwortung vor Gott, die Lehren und Taten des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter unverfälscht zu erhalten und zu verwalten. Rom approbiert diese Lehre, und ihre Wirkungen sind bewundernswert. Mit ihr schafft man etwas Ganzes, etwas Vollständiges, und Vollkommenes.

Welcher Ordensgeist gleicht in vergangenen Zeiten am ehesten dem des Genfer Kirchenlehrers? Ich meine, der des hl. Bruno. Seine Kartäuser bedurften seit 900 Jahren nie einer Reform. Ihre Regel blieb völlig unverändert, weil sie die ganze Wahrheit besitzen und auf einer soliden, sicheren und vollkommenen Grundlage stehen.

Diese letzten Tage fanden die Einkehrtage unserer Jungarbeiterinnen statt. Schwester M. F., die sich weniger durch Geist als durch ein gesundes Urteil auszeichnet, erzählte mir in aller Einfachheit ihre Eindrücke aus der Kindheit: „Bevor ich hier her kam“, sagte sie, „verstand ich nichts. Ich ging zur hl. Messe, hörte die Predigten an, war aber nicht klar, was Religion eigentlich bedeute. Da kam ich nach Troyes, hörte die religiösen Unterweisungen, ging zum Katechismus und siehe da: es ging mir ein Licht auf… Ich spürte, hier war die ganze Wahrheit, alles, was ich brauchte. Es war nicht genau dasselbe wie in meiner Heimatpfarrei, wo mir immer etwas gefehlt hatte. Hier sagte ich mir gleich: ‚Das ist es, was dir bisher abging, hier findest du alles.‘“ Und sie fügte hinzu: „Als ich das Glück der hiesigen Mädchen während der Exerzitien beobachtete, fielen mir meine ersten eigenen Eindrücke ein. Die Mädchen hier sind glücklich, sie schütteten mir ihr Herz aus. Sie sind glücklich, weil sie den Zug des Hl. Geistes verspüren, weil das, was man ihnen vermittelt, etwas Ganzes und Sicheres ist.“

Diese Gedanken sind richtig. Man versuche einmal, die Lehre der Guten Mutter unter die Lupe zu nehmen: man wird darin nichts Besonderes, nichts Originelles finden. Sie ist einfach vernünftig, ist gesunder Menschenverstand. Damit soll nicht gesagt sein, wir taugten mehr als andere. Im Gegenteil: Wir stehen ihnen an Tugend und vielem anderen nach. Aber unser Lehrgut an sich ist etwas Komplettes und befriedigt all unsere Bedürfnisse. Es nützt in allen Lebenslagen. Halten wir uns darum getreu an diese Doktrin, damit wir sie unverfälscht weitergeben können. Will man selber seine Lehre und sein eigenes Leben zurechtbasteln, geht man einen gefährlichen Weg und fällt allzu leicht Illusionen anheim. Will man aus eigener Kraft beurteilen, was davon von Gott stammt, und was nicht, so setzt man sich großen Gefahren aus. Auf unserem Weg dagegen genügt es, ganz einfach und großmütig und liebevoll dem lieben Gott zusammen voranzuschreiten. Darin liegt die Wahrheit und die Heiligkeit beschlossen. Gott kann die Gabe der Wunder verleihen, was sicher sehr schön ist. Aber das schönste Wunder wiegt nicht einen Akt hochgemuter Hingabe auf.

Dieser Gedanke liegt mir sehr am Herzen. Bringen wir den Seelen große Ehrfurcht entgegen. Benehmen wir uns ihnen gegenüber nicht als Meister, Herren oder Erzieher. Gott allein ist Herr und Meister. Nicht einmal der Papst maßt sich diesen Titel an, sondern erbittet und sammelt die Antworten der Bischöfe in Fragen des Glaubens. Respektieren wir also das Wirken des Hl. Geistes in den Seelen und unterstützen wir es. Seien wir ihnen behilflich, dem göttlichen Gnadenzug jederzeit zu folgen.

D.s.b.