Kapitel vom 30.04.1890: Das Kapitel und die Rechenschaftspflicht gegenüber den (höheren) Oberen.
„Jeden Monat muss der Obere alle Oblaten wegen vorgefallener Fehler oder Verstöße gegen die Regel und Satzungen brüderlich zurechtweisen.“
Bisher haben wir diesen Punkt der Satzungen nicht befolgt. Es wird notwendig, auch in diesem Punkt etwas zu unternehmen. Ich sage es jetzt schon, dass man sich darauf einrichtet. Diese Zurechtweisung möge in jedem Haus vorgenommen werden. Wir wollen hier damit beginnen. Die Regel lässt dem Oberen die Wahl, im Kapitel oder unter vier Augen es zu tun. Er selbst muss beurteilen, was ratsamer ist. Wir beginnen nächsten Monat, also im Mai, damit. Das ist ein schöner Anfang. Diese brüderliche Zurechtweisung erstreckt sich allein auf die Fehler und Verstöße gegen die Regeln und Satzungen.
„Jedes Mitglied der Genossenschaft kann seinem Oberen außerhalb der Beichte Rechenschaft ablegen über die äußeren Fehler, die er sich gegen die Satzung zu Schulden kommen ließ… Dieser Punkt ist nicht Vorschrift, sondern dem freien Willen des einzelnen überlassen.“
Die Rechenschaft ist eine ausgezeichnete Sache, wenn man sie gut ablegt. Es wäre sehr zu wünschen, wenn ein jeder sie jeden Monat ablegte. Die Kirche macht sie uns nicht zum Gebot, weil in der letzten Zeit, wahrscheinlich in manchen Frauenklöstern, bedauerliche Missbräuche vorkamen. Oberinnen sind dabei offenbar zu weit gegangen, ich weiß es nicht genau… Die Beichtväter dieser Ordensgemeinden haben dagegen heftig in Rom protestiert. So kam es zu dieser allgemeinen Regelung durch die römische Kurie, die Rechenschaft dem freien Willen anheimzustellen. Wären wir an der Stelle dieser Beichtväter gestanden, so hätten wir nicht so laut protestiert. Man verstehe mich gut: In einem Institut, in einer Ordensgemeinschaft muss man jeden an seinem Platz lassen. Die Oberin ist die Oberin und mit der Leitung des Hauses betraut. Kümmert sich der Beichtvater nun nicht mehr bloß um die Gewissen, sondern auch um die Leitung, dann bleibt für die Oberin kein Platz mehr übrig, wenigstens in der Heimsuchung und anderswo sicher auch. Vergessen wir nicht, dass wir da sind, um zu mehren und zu stärken, nicht um zu zerstören. Man hat gegen Missbräuche die Stimme erhoben, und man hat recht, sich zu beschweren. Der tiefere Grund dieses Vorgehens jedoch war nicht gut, sondern gegen den gesunden Menschenverstand: Wir sind nur Gesandte Gottes. Geben wir wohl Acht, uns nie an Gottes Stelle zu setzen. Immer wenn wir es mit einer guten Ordensregel zu tun haben, dürfen wir uns nie gegen die Regel stellen – wegen gewisser Missbräuche, die sich vielleicht dagegen eingeschlichen haben. Wir dürfen lediglich gegen den Missbrauch angehen, müssen im Übrigen aber Sorge tragen, dass die Regel selbst gestärkt und verbessert werde.
So wollen wir überall vorgehen, wo wir hinkommen, überall, wo wir uns einer Regel gegenüber sehen. Trachten wir nicht, an ihre Stelle unsere eigenen Ideen zu setzen und die Dinge auf diese oder jene Weise zurechtzurücken. Das wäre sträfliche Kühnheit.
Da wird eine Ordensregel seit 2-3 Jahrhunderten beobachtet. Man huldigte also einem Irrtum, man handelte verkehrt… Nur langsam! Die üble Gewohnheit, einfach zu reformieren, was man nicht versteht, ist leider sehr verbreitet. Nur wenige Priester und sehr wenige Ordensleute widerstehen dieser Versuchung. Was in sich schlecht ist, kann sich gar nicht auf die Dauer erhalten. Was aber schon seit langer Zeit besteht – mag es einem gefallen oder nicht – hat sich gerade deshalb so lange erhalten, weil es von Gott so gewollt war. Das gilt doppelt in unserer Zeit. Der Grundsatz der Autorität muss jederzeit hochgehalten werden. Was die Bewährungsprobe der Zeit bestanden hat, kann nicht einfach weggewischt werden, es sei denn, man habe vom Papst oder Bischof den Auftrag erhalten, zu reformieren. Dann ist es in Ordnung. Soviel für unser persönliches Verhalten. Was nun die Frage unserer monatlichen Rechenschaft betrifft, so behaupte ich nicht damit, sie sei notwendig.
Ich sage aber folgendes: Es sollte in unserem Kreis so viel Herzlichkeit vorherrschen, in jedem Haus so viel Einfachheit wohnen, dass die Novizen zu ihrem Meister, die Professen zu ihrem Oberen gehen, um ihm alles zu sagen. Sagt man aber nicht alles, dann hat man Grund, etwas zu verbergen. „Aber ich verspüre einfach keine Sympathie zu diesem Oberen.“ – Warum gehst du dann zur Beichte? Etwas aus Sympathie? Der Obere vertritt wie der Beichtvater die hl. Regel, die Kirche, den lieben Gott. Wir dürfen nicht auf seine Person sehen. Verspürst du eine natürliche Neigung zu jemand, dann sollst du sie unterdrücken. Ich behaupte ja nicht, es sei eine sündhafte Neigung, aber wir müssen sie dennoch unter die Botmäßigkeit des Willens bringen. Neigungen soll man nicht nachgeben. Wir stehen hier dem gegenüber, der Gottes Stelle in der Ordensgemeinde vertritt. Macht euch diese Gesinnung zu Eigen, es ist eine Sache des gesunden Urteils. Bittet Gott um Glauben und Vertrauen zu denen, die euch leiten, und Gott wird euch erhören.
Verbannt aus euren Herzen jede eitle Empfindlichkeit. Es wird euch auch noch so genügend Raum bleiben, euren Eifer und eure Talente zu betätigen. Seien wir in hohem Maße konservativ! Alles, was existiert, wurde nicht an einem Tag geschaffen. Tragen wir unseren Anteil bei, das Bestehende weiter auszubauen und nicht, es zu zerstören.
Desgleichen müssen wir, wenn wir in einer Pfarrei eine Predigt oder Mission halten sollen, erst gründlich „das Gelände studieren“. Gewiss ist diese Pfarrei nicht vollkommen und ihr Pfarrer auch nicht. Hat der Pfarrer verkehrte Ideen, so widerspricht ihm nicht und nehmt ihm nicht das Vertrauen seiner Pfarrkinder weg. Reißen wir die Apostolatswerke der Pfarrei nicht an uns, wenn wir dazu keinen Auftrag erhielten. Wir können einem Zimmermann auf der Straße auch nicht sein Beil oder seine Kreuzaxt wegnehmen, um seine Arbeit von vorne zu beginnen, die uns vermurxt erscheint. So dürfen wir auch dem Pfarrer nicht seinen Beichtstuhl, seine Hilfsquellen, seine Apostolatswerke rauben. Wir sollen ihm weiterhelfen, ohne gegen ihn zu arbeiten. Oder wollen wir uns zu Reformatoren aufwerfen? Nein, nur das nicht. Wir sind dazu da, um aufzubauen und nicht, um niederzureißen.
Wenn ihr euch immer an diesen Grundsatz haltet, werdet ihr euch das Vertrauen aller erwerben. Das ist der goldene Schlüssel, der uns die Herzen öffnet, der selbst eherne und bronzene Türen aufschließt.
„Jeden Monat lese man die Satzungen durch.“
Beim Durchlesen merke man sich oder notiere sich auf einem Zettel, was man in der vergangenen Zeit vernachlässigt hat und fasse einen entsprechenden Vorsatz.
D.s.b.
