Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 22.05.1889: Der Generalobere

„Der Generalobere soll darauf achten, dass alle Satzungen genau beobachtet werden.“
Der Generalobere darf aus eigener Autorität nichts ändern, keine Neuerung einführen noch etwas mildern. Das Generalkapitel hingegen kann aus dringenden Gründen leichte Änderungen an den Satzungen vornehmen, die aber der Approbation durch den Hl. Stuhl bedürfen. Diese Änderungen können im Übrigen nur vorübergehender Natur sein.

Die Satzungen sind das Grundgesetz der Kongregation. Sie wurden uns von der Kirche selbst übergeben, und wie die Gläubigen die Kirchengebote nicht missachten dürfen, so auch wir nicht unsere Satzungen.

„Er muss die Satzungen selbst beobachten und darf sich davon nur aus wichtigen und offenkundigen Gründen dispensieren.“

Es ist ganz klar, dass der Generalobere sich nach den Satzungen richten muss. Braucht er eine Dispens – er hat ja niemandem, der sie ihm geben kann – muss er vor seinem eigenen Gewissen entscheiden, ob und wie weit er sich selbst dispensieren kann.

„Er soll Seele und Herz der Genossenschaft sein, sie mit seiner Liebe anspornen, mit seinem Eifer beleben…“

Wir wollen bedenken, dass wir diesbezüglich dieser Empfehlung alle ein bisschen Obere sind, in dieser oder jener Hinsicht. Denn alle, denen ein Amt oder eine andere Beschäftigung zugewiesen ist, sind gewissermaßen mit der Sorge um Seelen betraut. Ein früherer Generalvikar von Paris sagte einmal: „Im Pariser Klerus gibt es zwei Kategorien von Klerikern: Die Pfarrer und Kapläne, die mit Eifer und Entschlossenheit an die Arbeit gehen und die Last der Seelsorge schwer auf den Schultern spüren. Und zweitens die Priester, die sich nur als Angestellte betrachten, brave, ehrenwerte Leute, die ihren Schubkarren vor sich herschieben.“ Meine Freunde, wir dürfen keine Angestellten sein, ehrenwerte Männer, die recht und schlecht ihr kleines Amt versehen. Wir sind als Priester und Ordensleute die Aktivisten und militanten Einsatzkommandos der Kirche. Der uns übertragene Posten ist nicht dazu da, dass wir unseren Lebensunterhalt verdienen und versuchen, unser Glück zu machen. In dieser Hinsicht sind wir also alle irgendwie Obere, Vorgesetzte des Amtes, das wir zu verwalten, Vorgesetzte der Seelen, die wir zu betreuen haben. Gewiss keine Oberen im juristischen Sinn. Aber in der Verwaltung unseres Amtes muss uns die Gesinnung beseelen, die die Satzungen hier kennzeichnen: die Seelen „mit unserer Liebe anspornen“, weil wir ohne diese Liebe ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle wären. Sie „mit unserem Eifer beleben“ – der Eifer der Liebe ist ein Feuer, etwas Tätiges und Brennendes, keine tote Asche. Seien wir also Glühende und nicht Laue, denn solche „würde der Herr ausspeien aus seinem Munde“, weil sie „weder kalt noch warm“ sind. Unser Eifer muss in unserem Herzen seinen Sitz haben, weil wir das ganze Herz ungeteilt an unsere Arbeit hingeben sollen. „Wozu nützen schon halbe Taten?“ fragt der hl. Franz v. Sales. Unser Unterricht, Studium und Handarbeit sollen ein Höchstmaß an Gewissenhaftigkeit aufweisen. Setzen wir dafür unser ganzes Können ein, Leib und Seele. Für einen Ordensmann gibt es keine gleichgültigen Handlungen. Als Jünger unseres Herrn müssen wir in seine Fußstapfen treten. Kam er doch, um Feuer auf die Erde zu bringen.

„…sie mit seinem Eifer beleben, in Frieden und Eintracht erhalten…“

Ein ganz wichtiger Punkt ist das! Wenn wir jemand verantwortlich sind, müssen wir uns peinlichst hüten, über ihn jemals nachteilig zu sprechen. Das gilt für einen Pfarrer bezüglich seiner Pfarrkinder. Umso mehr ist einem Oblaten verwehrt, über seine Mitbrüder oder die seiner Leitung Anvertrauten abträglich zu reden. Unsere Beobachtungen sollen wir in aller Herzlichkeit dem vortragen, den sie angehen. Darüber hinaus dürfen wir nicht gehen. Jedes Haus, das in sich uneins ist, zerfällt.

„…sie in Leben und Lehre im Geiste des hl. Franz v. Sales zu erhalten…“

In der Seelenführung wollen wir alles unterlassen, was nicht mit unserem Ordensgeist übereinstimmt, ihm also wesensfremd ist. Wir haben unsere Satzungen, die Schriften der Guten Mutter, die Werke des hl. Franz v. Sales, die Kapitel, die ich euch halte: das ist unsere Doktrin. Alles andere, „mag es noch so gut scheinen und es auch wirklich sein, für sie wäre es nicht gut, dessen versichere ich sie“, warnt schon unser hl. Gründer. Eine Gemeinschaft, die ihrem Geist treu bleibt, wird in der Kirche Gottes ihren Platz  immer behaupten. Wenn sie hingegen daran Änderungen vornimmt, wird sie zerfallen. In seinem Wirkungskreis sehe also jeder darauf, dem Geist unseres Gründers stets den Vorzug zu geben, „in Leben und Lehre.“ Aus diesem Grund blieb es der Heimsuchung erspart, sich je reformieren zu müssen. Treu stand sie stets zu ihrer Regel, hielt ihren Geist und ihre Überlieferung hoch. Unsere Lebensweise ist durch die Satzungen, das Direktorium und die gute Observanz festgelegt. Treue gebührt auch unserem spezifischen Geist, der seinen Niederschlag in unserem salesianischen Lehrgut fand. Dieses wurde von der Kirche anerkannt und gut geheißen. Bedienen wir uns also für unser Vorgehen keiner Methoden und Lehren, die nicht der vom hl. Stifter überkommenen Lehre entsprechen. Wir sind die Hüter seiner Lehre, und nicht der der anderen. Verteidigen wir sie tatkräftig und treu! Sie ist zweifellos auf jede Zeit anwendbar. Man hat der Heimsuchung prophezeit, sie werde bis zum Ende der Zeiten fortleben. Darin liegt nichts Erstaunliches. Welche Ursache vermöchte schon das entkräftigen, was unser hl. Stifter gelehrt hat?

Ich betone noch einmal die Eigenschaften und Bedingungen, die wir mit unserer Arbeit verbinden sollen: Liebe, Eifer, Eintracht und Treue zu unserem eigenen Geist. Tun wir also nichts lässig, nur so halb und halb, gerade so, dass es getan ist! Verrichten wir jede Arbeit so, dass wir das Ziel erreichen, das Gott uns mit dieser Arbeit zu erreichen auftrug. Die Arbeit an sich nichts, ist nur Mittel zum Zweck. Das von Gott uns gesteckte Ziel ist alles, und dieses Ziel heißt es erreichen. Friede und Eintracht sind die unerlässlichen Bedingungen für das Leben und den Bestand eines Ordens, besonders des unsrigen, weil wir auf dem Fundament der Liebe gegründet sind und es unsere große Aufgabe ist, sie im Leben zu verwirklichen. Wir müssen alles meiden, was die Herzen und Geister spalten könnte. Unterschiebt jederzeit allem, was gesagt und getan wird, eine gute Absicht. Macht euch jene Tugend zu Eigen, die die griechischen „Eutrapelia“ nannten, d.h. wohlwollende Interpretationen, günstige Auslegung… Begeht ein Oblate einen Fehler, einen Irrtum, und sieht er, dass man ihn günstig auslegt und entschuldigt, so wird ihn das fester mit seinen Mitbrüdern und inniger mit seiner Ordensgemeinde verbinden. Gott lässt solche Fehler oft zu, weil nachher ein größeres Gut daraus erwächst. „In Leben und Lehre der Geist des hl. Franz v. Sales!“ sagen die Satzungen. Nichts soll uns je dazu bewegen können, die Lehre unseres hl. Gründers abzuändern. Wenden wir sie vielmehr auf alle vorkommenden Lebenslagen an. Sie wird die Seelen zu einem innerlichen Leben führen und die reichsten Gnaden auf sie herabziehen.

Ich erinnere daran, dass wir in der österlichen Zeit leben, und diese Zeit uns zu größerem Eifer im Frömmigkeitsstreben anspornen sollte. Unser Herr besucht seine Apostel, bringt ihnen den Frieden, lässt sie seine Wunden sehen und berühren, überträgt ihnen ihre Sendung und schickt sie in alle Welt, nachdem er den Hl. Geist auf sie herabkommen ließ. Lest das Evangelium des hl. Johannes, wo er diese österliche Zeit schildert.

 

Die junge Kirche lebt allein von ihrem Meister und er lebt allein für seine Apostel. Vereinigen wir uns mit den Aposteln und erbitten wir von unserem Herrn dieselben Gnaden, die er ihnen geschenkt hat. Die Seelen, die unseren Herrn lieben, finden ihn in der österlichen Zeit leichter als sonst im Jahr.