Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 29.12.1886: Das Verhalten zu den Mitbrüdern.

„Um die Liebe und die brüderliche Eintracht zu wahren, werden die Oblaten große Ehrfurcht voreinander haben und schlicht, herzlich und liebevoll miteinander verkehren.“

Wir wollen uns die Gewohnheit zulegen, einander auf eine geziemende und ehrfürchtige Weise zu behandeln, ohne Geziertheit und Künstelei. Zeigen wir jenes Entgegenkommen, das gute Erziehung ebenso verrät wie wahre Liebe. Leicht finden wir Beweggründe, um uns so zu begegnen. Der Ordensmann ist nun einmal der Mensch, den unser Herr liebt. Die Wahrscheinlichkeit aber spricht dafür, dass Gott diesen Mitbruder mehr liebt als uns. Wir kennen ja nicht seine Seele, und was an ihm fehlerhaft scheint, wird bei ihm aufgewogen durch manche andere Tugenden, die uns abgehen. Diese Liebe ist das Charakteristikum des Christentums: „Liebet einander!“ Der Ordensstand gründet ganz in der Ehrfurcht.

Die Gute Mutter fiel auf durch die Hochachtung, die sie allen Schwestern bezeigt. Sie behandelte sie jederzeit mit großer Ehrerbietung. Das geschah aber in aller Schlichtheit, sodass sie sie nicht verlegen machte und nicht verletzte. Wir sollten dasselbe tun, und zwar mit unserer Seele, unserem Verstand und unserer ganzen Feinfühligkeit. Der befohlene und rechtliche Respekt dagegen macht verlegen.

„Besondere Freundschaft sollen sie ebenso sehr meiden wie jede Abneigung.“ Wir werden unsere Seele keinem dieser beiden Gefühle ausliefern, weil es den Ruin der Kommunität nach sich zöge und alle Arten von Missbräuchen und Fehlern auslösen würde. Werden zwei Ordensleute zu intim, dann verletzt dies zuerst die Liebe zu allen Mitbrüdern, so dann ruft es unfehlbar Schlechtes hervor und stiftet Unheil an. Mit der gleichen Sorgfalt heißt es aber auch Abneigungen vermeiden, und auch hier gilt: betrachten wir unsere eigenen Fehler und die Liebe, die Gott den uns missliebigen Menschen entgegenbringt! Vielleicht überhäuft er sie sogar mit seinen Gnaden.

„Den Oberen sollen sie Ehre und Hochachtung erweisen, nie an ihnen vorübergehen, ohne sie zu grüßen.“

Muss man natürlich öfters an jemand vorbeigehen, grüßt man nicht ständig. Dennoch wollen wir in unserem Verhalten, spüren lassen, dass man die hl. Regel beobachten will. Kam es vor, dass man sich gegenseitig beleidigt hat, soll man das im Direktorium Angezeigte tun: durch einen entgegensetzten Akt, durch ein liebevolles Wort wollen wir es gutmachen. Der Untergebene tue es seinem Oberen gegenüber, und dieser antworte durch ein herzliches Wort. Damit sollte der Vorfall aus der Welt geschaffen sein.

„Das Stillschweigen wird stets beobachtet… Wenn es eines Dienstes wegen nötig ist, ein Wort zu sagen, wird man es kurz und leise tun.“ Im Speisesaal wollen wir nicht sprechen. Müssen wir uns etwas sagen, tun wir es nicht dort. So erfüllen wir unsere Satzungen und erbauen unsere Schüler.

Vermeiden wir es, durch lange und unnütze Unterhaltungen Zeit zu verlieren, ob in den Zellen oder anderwärts. Sprechen wir außerhalb der Freizeiten nur aus Gründen der Ämter, mit denen wir betraut sind, und tun wir es dann nur kurz.

„Man vermeide im Zimmer, beim Gehen… jeden Lärm.“ Das heißt nicht, dass wir unsere Schritte abzählen müssten. Bleiben wir natürlich und werden wir nicht lächerlich. Wir wollen so gehen, dass es nicht auffällt, weder im einen noch im andern Sinn.

„Gewöhnlich seien nicht weniger als drei beisammen.“ Will man ein kleines, liebenswürdiges und geistliches Wort anbringen, das niemanden verletzt, so ist es gut. Immer sollten wir überlegen, was wir sagen, Im Urteilen ist jederzeit Diskretion am Platz, man muss seinen Gesprächspartner kennen. Zeigt euch selbst nie beleidigt, was immer man zu euch gesagt haben mag…

Äußert nie euren Widerwillen gegen die Übung der hl. Regel. Vertraut anderen nicht eure Schwierigkeiten an. Das sollten wir nur dem Oberen und dem Novizenmeister gegenüber tun. Dieser Punkt ist von Wichtigkeit.

„Es besteht strenge Schweigepflicht, auch untereinander, über alles, was im Kapitel gesagt und getan wird.“ Wer das tut, begibt sich für ein Jahr des Rechtes, am Kapitel teilzunehmen. Das Geheimnis, das den Anordnungen der Vorgesetzten und der Leitung geschuldet wird, muss ebenfalls genau betrachtet werden.

„Man versage sich jede lieblose Kritik an Mitbrüdern und besonders an Oberen.“
Nichts unerbaulicher als Ordensleute, die sich über ihre Oberen beklagen. Das erregt Ärgernis und beschwört die Gefahr herauf, dass eine Spaltung einreißt. Jedes Haus aber, das in sich uneins ist, geht zugrunde. Eine Gelegenheit, mit Sicherheit gegen diesen Artikel der Satzungen zu verstoßen, ist das Zusammenkommen mit Frauen oder Ordensschwestern. Das scheint nämlich von Natur aus zu liegen,  und sie verstehen es, zu verdächtigen, es sei denn, es sind große Heilige. Außer der Guten Mutter kannte ich kaum eine, die diese Schwäche hatte. Sie versuchen, um bei euch Erfolg zu haben, von den Patres, die eure Vorgänger waren, euch eine Wunderlichkeit oder einen Fehler zu erwähnen, den ihr nicht habt. Um einen Priester, der zum Predigen kommt, zu schmeicheln, loben sie seinen Vorgänger, fügen dann aber hinzu: „Er predigte sehr gut. Sie aber predigen noch viel besser.“ Notfalls lässt man eine kleine Geschichte einfließen, die keinen Zweifel lässt, wie sehr sie euch vorziehen. „Nicht die Liebe hat Troja zugrunde gerichtet, sondern die Eigenliebe.“ (Anm.: „P. Brisson zitiert hier offenbar ein Sprichwort.“). So ähnlich sind sie alle. Damit wollen sie eure Wertschätzung und eure Sympathie erwerben. Diese gute Schwester wird immer trachten, wenn sie sieht, dass ich den P. X. schätze, ihn ein bisschen auszustechen, und es soweit zu bringen, dass ich sie dem P. X. vorziehe. Diese Erfahrung habe ich auf meine Kosten machen müssen… Ich will nichts Schlechtes über die Frauen sagen, ich möchte nur, dass ihr in euren Beziehungen zu ihnen die Liebe zu euren Mitbrüdern wahrt.

Diese Bemerkung ist wichtig, glaubt es mir, um die brüderliche Liebe und unser gutes Verhältnis zueinander zu bewahren. Unser Vorbild ist die Gute Mutter. Welche Ehrfurcht bezeigte sie doch allen Schwestern. Wie wusste sie das Gute in jeder von ihnen zu schätzen.

„Man kümmere sich nicht neugierig um die Verwaltung des Hauses.“
Hat man diesbezüglich einen Beitrag zu leisten, dann wende man sich an die zuständige Person.

„Aufregende Fragen der Politik, Auseinandersetzungen über die verschiedenen Völker und Stämme sollen vermieden werden.“ All diese Differenzen verschwinden vor der Liebe. Lesen wir darum keine rein politischen Zeitungen. Wir haben so vieles andere zu tun: unsere Seele retten und die Seelen der anderen dazu.
Herr Chevalier sprach mir einmal von einem Bischof, der zeitunglesend starb. „Wäre es ein Pfarrer, ginge es noch! Aber ein Bischof! Ein solcher sollte sich die Zeitung höchstens von seinem Sekretär vorlesen lassen…“ Seien wir in dieser Hinsicht ein bisschen Bischöfe! Die Ordensleute stehen übrigens im selben Rang wie die Bischöfe, sagt der hl. Thomas und die hl. Kirche.