Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 08.01.1880: Die Betrachtung.

Unser Vater sprach vom inneren Gebet, der Betrachtung. Sie ist für uns, wie er zunächst ausführt, nicht Übung einer halben Stunde, sondern begleitet uns das ganze Tagewerk hindurch. Die die Gute Meinung, die Gebete beim Stundenschlag und die anderen Übungen des Tages sind nichts als die Verlängerung und Fortsetzung unserer Betrachtung, ja sind unsere Betrachtung selber.

Doch müssen wir gleichwohl wissen, wie wir die halbe Stunde, die speziell dieser Übung gewidmet ist, ausfüllen sollen.

Es gibt eine Methode, die der hl. Stifter in der Philothea lehrt, die uns anleitet, die Glaubensgeheimnisse durch zu betrachten, indem wir sie durch die „Erwägung“ intellektuell uns vorführen. Dadurch wird die Seele warum und es entstehen starke Vorsätze.

Eine andere Methode hält uns an, uns mit Gott über unsere eigenen Angelegenheiten und speziell über unser Tagewerk zu unterhalten. In der Tat, die Monate sind eine Folge von Tagen, die Jahre eine Folge von Monaten und das Leben nur eine Reihe von Jahren. Unseren Tageslauf erneuern heißt also das ganze Leben reformieren.

Wir können aber auch die Betrachtung über das Direktorium machen, indem wir z.B. mit dem Aufstehen beginnen und nachsehen, ob wir treu die Gedanken des Aufstehens genommen haben. Dann genau feststellen, was wir auslassen, uns darüber hinaus vor Gott verdemütigen, besonders wenn wir vielleicht bisher noch einen einzigen Punkt unseres Direktoriums ausgeführt haben. Bitten wir ihn um Gnade und, da die Betrachtung ja nicht auf eine unverbindliche Weise enden soll, fassen wir einen festen und wirksamen Vorsatz, uns zu bessern. Auf diese Weise reformieren wir ganz allmählich unser Tagewerk und unser ganzes Leben. Quält uns aber eine besondere Schwierigkeit, etwas, wovon wir nicht loskommen, etwas, was uns hindert, davon mit Gott zu sprechen, mit wem sollten wir denn sonst unsere Angelegenheiten besprechen, wenn nicht mit ihm? Zerstreut uns das aber nicht, während der Betrachtung an eine schwierige Schulklasse zu denken? Nein, sobald wir darüber mit Gott sprechen, spielt der Gesprächsgegenstand keine Rolle. Denn unterhalten wir uns mit Gott über ein erhabenes Thema, z.B. über die Tugend eines großen Heiligen, so sind wir deshalb auch nicht gesammelter als wenn wir mit ihm über unsere eigenen Probleme reden. Vielleicht schenkt uns Gott ihm über unsere eigenen Probleme reden. Vielleicht schenkt uns Gott sofort nach der Betrachtung nicht die erbetenen Erleuchtungen. Es scheint uns, Gott sage uns gar nichts. Doch schweigt er während der Betrachtung, so kenn er uns doch später die erbetene Hilfe geben, sobald die Schwierigkeit auftaucht. Hat er denn den Martyrern nicht eine Weisheit versprochen, der niemand zu widerstehen vermag? Ja, noch mehr: Es ist unendlich vorzuziehen, die Stimme Gottes bei der Betrachtung nicht fühlbar zu vernehmen, weil seine Hilfe uns dann umso wirksamer in der Wirklichkeit des Alltages kommt.

Verharren wir also in großer Demut des Geistes vor Gott, indem wir sprechen: Ich bin zwar nicht wert, Deine Stimme zu vernehmen, aber ich verlasse dich nicht, ohne dass du mich gesegnet hast. Im Gegenteil kommt es so vor, dass wir bei der Betrachtung seine Tröstungen erfahren haben, Gott aber dann zulässt, dass wir unseren guten Vorsätzen untreu werden, die wir mit so viel fühlbarem Eifer gefasst haben. So geschah es einer Dame, die eine großartige Betrachtung über die Geduld gehalten hatte, ihre Angestellte zunächst auch sanftmütig während der Betrachtung empfängt, dann aber, von ihr wieder gestört, ihr entgegen all ihren guten Vorsätzen und ihrer Gewohnheit eine Backpfeife versetzt.