Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Von der Guten Meinung.

Alle Ordensleute streben nach der Heiligkeit und der Nachahmung unseres Herrn. Die einen jedoch, so führt unser Vater (Brisson!) aus, ahmen eine spezielle Tugend des Erlösers nach, andere dagegen wählen eine andere aus, so zwar, dass die erwählte und vorgezogene Tugend in einem besonderen hellen Glanz unter ihren Schwestern, den übrigen Tugenden, leuchtet. Unser hl. Stifter hingegen will, dass seine Söhne, unseren Herrn in seiner Ganzheit nachahmen. Darum stellte er uns das ganze Evangelium als Modell vor Augen.

Unser Weg ist somit der Weg unseres Herrn selbst, und bei uns muss und wird alles dazu beitragen, uns zu einem zweiten Christus zu machen. Echte Oblaten werden sich darum bemühen, Jesus Christus selbst in sich zum Aufleuchten zu bringen, und das in einem Maße, dass Er in ihnen wirklich lebt: die Vereinigung der Gottheit mit der Menschheit ist nämlich der Weg, den Gott gewählt hat, um uns zu heiligen.

Das göttliche Wort vereinigt sich hypostatisch (personenhaft) mit der menschlichen Natur, und Gott ist alles in dieser Natur. Er wirkt in ihr die göttlichen Werke, da seine Verbindung mit der menschlichen Natur ja eine personenhafte ist. Darum sollte auch jeder Christ ein anderer Christus werden, und er empfängt seine Heiligkeit einzig von Gott, der in ihm wohnt. Je mehr wir also in Gott leben, umso mehr wird Gott in uns wohnen. Wir gleichen infolge dessen Jesus Christus. Das Leben unseres Herrn muss darum unser Leben werden, er muss in uns leben.

Das Mittel aber, Gott in uns leben zu lassen, ist: alles für ihn und in ihm mithilfe der Guten Meinung zu verrichten. Jeder Oblate befleißige sich darum, wie es im Artikel unseres Direktoriums heißt, in Gott und in der Gemeinschaft mit ihm zu leben und zwar gleich vom Beginn all seiner Handlungen an. Dann wird er in Lebensgemeinschaft mit Gott stehen.

Diese Gute Meinung, die keine spezielle Formel verlangt, besteht vornehmlich darin, sich mit Gott zu vereinigen, damit er zu uns komme, und sich würdige, gleichsam an unserer Stelle zu arbeiten. Wir bitten Gott dabei, dass er uns helfen möge, oder besser gesagt: Er möge in uns wie in seinem Eigentum handeln. Dabei opfern wir ihm alles auf, das Angenehme wie das Unangenehme, da er künftig der Herr und Meister in uns ist.

Scheuen wir uns darum nicht, Gott auf diese Weise alles zu übergeben, so unbedeutend es sich ausnehmen mag. Welch ein Glück liegt doch darin, Gott in sich zum Leben zu erwecken! Unser Vater (P. Brisson, d. Red.), billigt es, seine Gute Meinung in folgender Weise zu erwecken: „Alles für Gott, alles mit Gott, alles in Gott, o mein Herr Jesus Christus!“ Oder: „Mögest Du, Herr Jesus Christus, in mir und in allen meinen Werken leben! Ja, lebe in mir, nimm alles in mir in Beschlag und handle an meiner Stelle!“ Auch jede andere Weise ist gut, wenn sie uns nur ganz in Gott versenkt… In der Kulp sollte man sich anklagen, wenn man vergessen hat, die Gute Meinung zu erwecken. Diese Art und Weise bildet unseren Lebensgrund in Gott. Das wirft uns ohne Unterbrechung in Gott hinein und lässt uns in Jesus wohnen. Darum sollen alle Oblaten so vorgehen. Dann wird unser Herr der Herr unserer ganzen Kongregation sein. Er selbst wird alles tun, weil alles für ihn und in ihm geschieht.