Ansprachen

      

63. Ansprache: „Die Stimme, die in der Wüste ruft“ zu einer Profess und einem Noviziatsbeginn am 20.08.1898

„Vox clamantis in deserto.“ (Anm.: „Eine Stimme, die in der Wüste ruft.“). Diese Worte könnt ihr treffend auf euch anwenden, denn das Wort Gottes findet keinen Widerhall in der Welt von heute, kein Echo, das den Klang widergibt, ja ihn nur vermehrt. Der Einzelmensch, die Familie, die ganze Welt ist zu dieser Wüste geworden, wo die Stimme Gottes nicht mehr zurückschallt. Tut sie es aber überhaupt, dann nur ganz selten. Und wenn die Menschen sie hören, dann si, als wäre es das erste Mal in ihrem Leben. Das könnt ihr noch nicht wissen, meine Freunde, die ihr aus christlichen Familien stammt, die euren Seelen die Wahrheiten Gottes und des Glaubens mitgeteilt haben. Alles hat sich heute verschworen, dass die Kinder nicht mehr das Wort Gottes vernehmen. Beachtet nur, wie überrascht die Kinder dreinschauen, wenn man ihnen von Gott spricht und sie zu verstehen beginnen. Es ist wie das Erstaunen seines Wilden bei der ersten Offenbarung eines zivilisierten Wesens. Welch eine trostlose Wüste, so eine Seele, die nicht durch das Licht des Glaubens erleuchtet ist. Sucht, und ihr werdet darin nicht einmal die Eigenschaften eines einfachen, gesunden Menschenverstandes entdecken können.

Welch eine schreckliche Wüste!

Wenn wir uns an die Jugend wenden, wollen wir daran denken, dass wir die Vorläufer des Herrn sind. Bitten wir deshalb um jene Kraft des Glaubens, die durch die Seelen dringt und sie begreifen lässt, dass es noch etwas anderes gibt im Leben als Lüste und Vergnügungen, dass es auch einen Herrgott gibt…Fasst die Jugend mit großer Liebe an…Eines Tages trat ich in die Zelle des P. Retournat in der Großen Kartause ein und neigte mich über seinen Betstuhl, der ganz von Tränen benetzt war. Weil ich inständig zum Herrn gebetet habe, er möge den Kindern, die soeben getauft wurden, den Glauben und die Unschuld erhalten…

Suchen wir die Tränen des P. Retournat zu verstehen, meine Freunde. Halten wir darüber eine Betrachtung. Machen wir uns den Gedanken des Paters und seine Hingabe zu Eigen und begreifen wir, was es heißt, die Seele eines Kindes zu retten. Beten und weinen auch wir! Verstehen auch wir, dass das ganze Glück hienieden darin besteht, Gott zu lieben. Wie groß muss also das Unglück derer sein, die Gott nicht lieben!

Ja, die Jugend! … Wir haben ihnen gegenüber eine göttliche Sendung. Auch unser Herr liebte die jungen Leute, die Kinder: „Senite parvulos venire ad me.“ (Anm.: „Lasst die Kinder zu mir.“)! Eines Tages sah er einen Jüngling auf sich zukommen. Er schaute ihn an und fasste Zuneigung zu ihm… Meine Freunde, wenn wir gute Ordensleute sind, teilen wir unseren Beruf auch anderen mit: „Rogate ergo Dominum messis.“ (Anm.: „Bittet also den Herrn der Ernte.“). Es heißt nicht nur: „Rogate“, sondern mit Nachdruck: „Rogate ergo“, so betet doch, immer und immer wieder! Wenn wir gute Ordensleute sind, flößen wir unsere Berufung ach den Seelen derer ein, die mit uns zusammenkommen. Es ist unmöglich, dass ein Ordensmann oder Priester in seinem Leben keinen jungen Menschen findet, der ihm nachfolgt und, angezogen durch sein Wort, sein Beispiel und sein Gebet nicht zu ihm stößt. Das ist die Grenzlinie, das unfehlbare Zeichen eines guten Ordensmannes. Jesus erteilt uns diesbezüglich eine schreckliche Lektion: Eines Tages geht er von Bethanien nach Jerusalem. Er hatte Hunger und erblickte einen Feigenbaum, der keine Früchte trug. Gewiss ging er jetzt daran vorbei und gab sich nicht mit ihm ab… Durchaus nicht, sondern: „Iam non amplius in aeternum ex te fructum quisquam manducet.“ (Anm.: „In Ewigkeit soll niemand mehr von dir essen.“). Der verfluchte Feigenbaum vertrocknete bis in die Wurzeln hinein… Geben wir also wohl acht, meine Freunde! …

Wer aber wird die Wege der Gnade in diesem Werk der Berufung junger Menschen lenken? Das seid ihr! Geht also, „parate viam Domini“ (Anm.: „Bereitet den Weg des Herrn.“)! Ja, bereitet den Weg bei der Ausübung der Seelsorge, die Gott und seine Vorgesetzten euch anvertrauen. Bereitet ihn auch in den Wüsten, so ausgedörrt sie auch erscheinen mögen. Ungeheuer groß ist die Zahl derer, die mit der Samariterin sagen können: „Da mihi hanc aquam, ut non sitiam.“ (Anm.: „Gib mir von diesem Wasser, dass ich nicht mehr dürste.“)… Eine ungemein ernste Verpflichtung lastet da auf uns. Denn da uns liegt es in besonderem Maße, so scheint es, den Weg unseres Herrn bekannt zu machen.

Wir müssen die Finsternisse dieser armen Menschen aufhellen und sie die heiligen Wege des Heiles und der Gottesliebe führen.

Der hl. Stifter hat es ausgezeichnet formuliert: Jene, die auf dem Weg unseres Herrn voranschreiten wollen, müssen zu Beginn… Müssen also von der rechten Absicht und dem Geist des Direktoriums leben… Jede andere Intention, jede andere Lehre und Predigtweise müsste bei uns versagen. Warum das? So wie Holz verarbeitende Arbeiter nicht zum Verarbeiten von Eisen bestimmt sind, so würde jede andere Art und Weise, die Seelen zu lehren und zu führen, für uns, wenn nicht gefährlich, so doch nutzlos sein. Veranlasst euch nicht auf euren persönlichen Wert, noch auf eure Talente. Gott hat euch einen nützlichen und fruchtbaren Seelsorgedienst nur im Sinn und Rahmen eurer Berufung erlaubt.

„Die Stimme des Herrn in der Wüste hören lassen…“

Das Feld dehnt sich weit, die Arbeit bietet Schwierigkeiten. Die höllischen Mächte kämpfen vereint gegen die himmlischen Kräfte. In dieser Auseinandersetzung müsst ihr wahre Athleten sein. Wieviel Liebe, wieviel Eifer setzt das voraus!

Die Welt weiß nicht, was es ist, um eine Seele, und vor allem um eine Seele, die um den Preis des Blutes eines Gottes erkauft ist. Es ist sicher, wenn ihr eine Seele dem Teufel entreißt und Gott zuführt, habt ihr eine Krone im Himmel erworben, und je mehr gerettete Seelen, umso mehr Edelsteine schmücken diese Krone. Ihr seid es dann, die diese Seelen Gott schenken als Lohn eurer Tagesarbeit… Jene, die das begreifen, mögen auch begreifen, was es heißt, nach Afrika zu gehen! … Der hl. Augustinus sagt, der Dämon Afrikas sei der mächtigste von allen: „Daemonium meridianum.“ In Afrika seien die Versuchungen des Leibes wie der Seele heftiger als anderswo… Und der hl. Augustinus fährt fort, die Seele eines Afrikaners sei an sich kostbarer als die jedes anderen, weil sie schwieriger zu retten sei… Sprecht darum eurer Seele Mut zu, und betet: Erweise mir, mein Gott, die Gnade, ein guter Novize, ein guter Ordensmann zu werden, damit ich dir viele Seelen zuführen kann. Damit ich selber allezeit deine Stimme vernehme, die mich ruft, und sie dann auch anderen deutlich vernehmbar zu Gehör bringe!

Wer aber bestimmt die Aktion und die Bewegung dieser Stimme? Unser Herr selbst. Habt darum in den Kollegien, bei eurer Handarbeit, in der Seelsorge, in den fernen Missionen diese Stimme jederzeit eurem Geist gegenwärtig. Sie schallt mächtig! Hört sie also und macht auch andere auf sie aufmerksam. Es ist die Stimme des Heilandes selbst. Befolgt sie mithilfe des Direktoriums. Diese Stimme bezaubert, fesselt und zieht an… Ihr bereitet Gott einen Ruheplatz in diesen Seelen, wo er wohnen kann. Ihr seid es, die beitragen, seinen Tempel aufzubauen, auszubessern und auszuschmücken.

Möge unsre hl. Mutter Chantal, deren Fest wir heute feiern, mit euch sein! Möge sie für jeden von uns das Wunder erneuern, das sie für uns alle an den Tagen unserer Anfänge gewirkt hat. Msgr. de Segur, an den ich mich wandte, sagte mir: „Um einen Mann zu finden, wie Sie ihn wünschen, müssen Sie auf dem Mond suchen!“ Ich fuhr nach Annecy, und betete sofort in der Kirche der dortigen Heimsuchung. Sie wurde gerade renoviert…. Ich war enttäuscht von diesem Missgeschick. Kann man denn nicht ungestört in diesem wichtigen Anliegen beten, in dem ich mich an die hll. Stifter wandte. Ich konnte mich nicht niederknien in einer Kirche, die voll war von Arbeitern, Steinen, Gips und Staub… Schließlich fand ich ein Eckchen, wo ich mich hinknie. Da erblicke ich plötzlich, als ich die Augen erhob, in ein bis zwei Meter Höhe vor mir unsere hl. Mutter Chantal, die Arme ausgebreitet und das Antlitz geprägt von Liebe ebenso wie von einer ganz himmlischen Glückseligkeit… Da erlebte ich einen Vorgeschmack des Glückes, das man im Himmel verkostet! …

Und dieses Glückes werden wir Oblaten teilhaftig, wenn in die Wüste gehen, um dem Herrn die Wege zu bereiten und sein Reich auf Erden sicherzustellen. Amen.