54. Ansprache anlässlich des Beginns des Seligsprechungsprozesses der Ehrwürdigen Mutter Maria Salesia, am Mittwoch, dem 28.07.1897, in der Kapelle der Heimsuchung zu Troyes.
Das Fest, das wir heute begehen, ist ganz und gar ein Familienfest. Sobald unsere Gute Mutter, die ehrwürdige Mutter Maria Salesia, seliggesprochen ist, werden wir ihr die Ehre erweisen, die man den Seligen erweist. Bis dahin erlaubt das hl. Kirchenrechte, obwohl sie ihnen einen Rang zuspricht, der höher steht als der Rang der im Frieden des Herrn entschlafenen Gläubigen.
Wenn wir heute also unsere Altäre mit Blumen schmücken, wenn wir das hl. Messopfer mit größerem Gepräge feiern, geschieht es einzig aus dem Grund, weil wir unsere Mutter auszeichnen wollen. Im Kreis der Familie bringt man ja auch der Mutter Blumen, und ist sie eine christliche Mutter, so bitten die Kinder sie um ihr Gebet.
Die Gute Mutter ist unser aller Mutter. Sie ist es für euch, meine lieben Schwestern und Töchter der Heimsuchung. Das ist ihr wahrer Charakter euch gegenüber. Wie war sie doch in Wahrheit eure Mutter! Welche Sorge brachte sie für jede eurer Seelen auf! Wie teuer waren ihr dich eure Seelen! Wie viel Sorge machte sie sich vor Gott um sie! Mit Hilfe welch unaussprechlicher Gebete zog sie die Gnaden und Gaben Gottes auf sie herab…! Sie war euch auch in natürlicher Hinsicht Mutter, da sie sich um die Gesundheit einer jeder Schwester kümmerte. Wollte sie doch einer jeden zukommen lassen, was sie benötigte, ohne dabei gleichzeitig die hl. Armut zu vernachlässigen.
Vor allem aber war sie eure Mutter vor Gott, sie war die geistliche Mutter eurer Seelen. Alles an ihr sprach von Gott, von der hl. Regel, vom Direktorium…
Liebe Schwestern, bewahrt vor Gott sorgsam ihr Andenken in euren Herzen! Möge jeder Stein eures Klosters und jeder Baum eures Gartens euch teuer sein! Die Gute Mutter hatte die hl. Armut so sehr ins Herz geschlossen! Wenn man die Heimsuchung betrat, fühlte man sich ganz eingehüllt von der Armut des Herrn. Man war davon wie überflutet. Es war der Wohlgeruch der evangelischen Armut. Bewahrt sorgfältig diesen Duft, ich beschwöre euch, ihr die ihr ihre Töchter, ihre wahren Töchter seid.
Die Jahre, die ich hier verbracht habe, bedeuten für mich eine unaussprechliche Erinnerung. Ich glaube nicht, und ich sage das im Angesicht Gottes, dass irgendein Ordenshaus vollkommener sein als es die Heimsuchung von Troyes zur Zeit der Guten Mutter war. Nicht der kleinste Verstoß gegen die hl. Regel kam hier vor, und keine einzige Schwester erlaubte sich auch nur ein Wort gegen den hl. Gehorsam…
Wo findet man das wieder? Im Himmel! Nun, das habe ich in der Heimsuchung von Troyes erlebt. Liebe junge Schwester, denkt immer daran. Beugt euren Eigenwillen unter die so liebenswürdige und mütterliche Hand, die euch leitet und segnet. Bringt dem Engel des Klosters, den der Himmel euch zu eurer Leitung gesandt hat, die schuldige Ehrfurcht entgegen. Vergesst nicht, dass ihr auf dem heiligem Boden dahingeht. Als Moses sich dem brennenden Dornbusch nähert, sagt Gott zu ihm: „Nimm deine Sandalen ab, denn die Erde, auf der du stehst, ist ein heiliger Boden, Gott wohnt da!“ Ich sage euch dasselbe. Haltet nichts zurück von euren eigenen Gefühlen und persönlichen Neigungen. Habt ihr vor euch doch eine große Leuchte, eure Ehrwürdige Mutter Maria Salesia. Sie wird euch auf dem Weg geleiten, der direkt zum Himmel führt.
Und ihr, meine vielgeliebten Patres, auch ihr habt in Mutter Maria Salesia eine Mutter, denn ihr wisst es nur zu gut, nur aufgrund ihres Titels als Gründerin der Oblaten und Oblatinnen eröffnete Rom den Seligsprechungsprozess der Guten Mutter. Zurzeit laufen in Rom noch zwei weitere Heiligsprechungsprozesse von Heimsuchungsschwestern, die noch nicht abgeschlossen sind, darum wollte die Ritenkongregation keinen dritten Prozess eröffnen. Gewiss wurde das Verdienst der Guten Mutter als echter Tochter des hl. Franz v. Sales, als vollendeter Typ einer Heimsuchungsschwester und Oberin anerkannt. Ihre klösterlichen Tugenden wurden als heroisch bewundert. Dennoch besteht hier eine gewisse Schwierigkeit: Die Kirche ist wie eine Familie, deren Vater der Papst ist. Jede Ordensgemeinschaft ist seine Tochter. Er kann darum keine Kongregation bevorzugen vor einer anderen, ohne die sehr natürliche Beschwerde hervorzurufen: „Hl. Vater, Sie lieben uns offenbar weniger als diese da…?“
Ihr seid also durchaus berechtigt, sie eure Mutter zu nennen! Wie viel Sorgen und Bemühungen vor Gott, wie viel heilige Sehnsüchte und Gebete, wie viel Seufzer sind vom Gitter der Kapelle hier aufgestiegen zum Tabernakel, um von Gott die allerhöchste Gnade zu erbitten, die sie ihm seit ihrem Noviziat schon vortrug! …
Wollte sie doch Priester nach dem Geist des hl. Stifters. Diese wollte und liebte sie nicht nur, sondern sie war auch ganz sicher, dass Gott sie ihr geben werde. Der gute Gott hatte ihr von Anfang an alles geoffenbart, was er von ihnen erwarte und alles, was er für sie tun werde.
Wie oft und oft hat sie in der Einsamkeit ihres Herzens euch von Gott erbeten, dass ihr wahrhaft heilig seid. Wie oft hat sie mit in diesem kleinen Sprechzimmer von euch gesprochen und mir die göttlichen Absichten, die immense Aktion der Liebe Gottes geoffenbart, um euch dem Erlöser zuzuführen wie die Apostel und euch die gleiche Sendung anzuvertrauen wie ihnen, damit ihr die Reichtümer seines Herzens verkündet! Immer, wenn sie für euch gebetet hatte an den Tagen, wo sie die hl. Kommunion für euch aufgeopfert hatte, kam sie ganz verklärt zurück. Ich betrachte ihr Antlitz wie das eines Engels. Um sie her floss es wie ein Heiligenschein von Glückseligkeit. Ich sagte dann zu mir: „So ist es, wenn man im Himmel weilt und Gott genießt und den Unendlichen besitzt.“ Wie oft hat sie für euch gebetet! Auch in den Leiden und Mühen des Beginns war sie eure Mutter. Nie erlebte ich es, dass sie klagte weder über ihre Leiden noch über Befürchtungen. Dabei gestand sie mir einmal: „Ich habe nie in meinem Leben so viel gelitten wie jetzt! Ich meinte, so viel könne man gar nicht leiden. O wie schwer ist es, zu tun, was Gott verlangt, wenn man heilige Priester und heilige Ordensleute haben will. Niemals habe ich so viel gelitten wie jetzt. Wenn Gott mich nicht aufrecht hielte, würde ich schwach werden…“ Das Leiden musste in der Tat sehr groß sein, wenn die Gute Mutter so sprach, denn ich sage es noch einmal: nie hörte man sonst ein Wort der Klage und Selbstbemitleidung über ihre Lippen kommen.
Da habt ihr eure Mutter, wie sie litt und für euch betete. Das ist aber noch nicht alles. Sie war auch eure Mutter und gab euch das tägliche Brot dank ihrer rührenden Sorge und ihrer Bitten in den verschiedenen Heimsuchungsklöstern, denn es fehlte uns an allem, an absolut allem… Eine Mutter fühlt so lebhaft, wenn ihre Kinder kein Brot haben, wenn es an den lebensnotwendigen Dingen gebricht.
Eben sagte ich zu den Schwestern, sie seien in Wahrheit die Töchter der Mutter gewesen. Jetzt sage ich euch – o dass Gott dieses Wort in Erfüllung gehen ließe – einer solchen Mutter müssen gleichgeartete Söhne. Man behauptet, eine Mutter liebe ihre Söhne mehr als ihre Töchter. Nun, im Himmel gibt es keine Eifersucht, und wenn ich euch sagen würde, ihre Liebe sei mütterlicher und lebhafter gewesen und ihre Fürsorge inniger, würde ich euch nur die Wahrheit sagen.
Habt darum ein Herz voller Liebe, meine Freunde! Und da wir bald die endgültige Approbation unserer Satzungen erhalten und Rom uns diese Gunst erweisen wird, weil wir Kinder dieser Mutter sind, müssen wir diese Satzungen und dieses Direktorium als echte Söhne der Guten Mutter auch praktizieren. Schöpft darum eifrig aus dieser Quelle, sie ist unvergleichlich reich und erschöpflich tief.
Gestern berichtete mir der Redner bei der alljährlichen Preisverleihung von St. Bernhard von einem Missionsplan für Schweden und fügte hinzu: Dafür bräuchte man Oblaten. Prediger, die nur kommen, und wieder gehen, genügen da nicht … Man bräuchte Ordensleute wie die Oblaten des hl. Franz v. Sales, deren Wort bleibt, deren Werke Bestand haben… Wäre P. Pernin hier, würde er euch erzählen, was (in Rom) alle von der Lehre der Guten Mutter Maria Salesia halten.
Möge sie darum wirklich Mutter sein, meine Freunde. Ihr, die ihr das Glück hattet, eine christliche Mutter zu besitzen, erinnert euch, wie eure Mutter gebetet hat. Wer hat euch das Geheimnis dieses inneren Gebetes gelehrt, das immer eine volle Wirkung bei Gott hervorbringt? Es war eure Mutter. Lernt aber auch von Ehrwürdigen Mutter, wie man beten muss. Lest wieder nach, was sie gesagt hat, betrachtet darüber in eurem Herzen und seid Apostel wie sie. Ihr wisst, dass sie gesagt hat: Jene, die sich im Kloster abgemüht haben, kommen in den Himmel. Doch wie viel Ängste, Gebete und Abtötungen brachten ihr dieses Versprechen ein. Sie stieg auf keine Kanzel, um für die Bekehrung der Seelen zu predigen. Wie bekehrte sie also die Seelen? Durch Gebet und Abtötung. Glaubt an die Wirksamkeit des Wortes Gottes, es ist das siegreiche Schwert. Glaubt aber auch die Wirksamkeit des Gebetes, denn Gebet, Abtötung, Zerknirschung (wörtlich b. Brisson: Selbstauslöschung), darin bestand das Apostolat der Guten Mutter, und dieses Apostolat ist immer wirksam.
Und ihr, liebe Oblatinnen, ihr seid ebenfalls die vielgeliebten Töchter unserer Guten Mutter. Ihr wisst, mit welcher Sorge sie eure ersten Schritte geführt, eure Anfänge verfolgt hat. Welche Freude und welches Glück, wenn sie den lieben Gott etwas für euch tun sah… Als Frl. Legros ihr vom kleinen Fass Wein sprach, das ohne Unterlass floss, sagte sie: Sagen Sie nichts weiter, sonst hört es auf. Wie sehr doch die Heilung meiner Schwester Chantal ihr zu Herzen ging! „Gott wirkt Außerordentliches für sie“, sagte sie. „Ihr seht daran, wie sehr er sie liebt.“ Und weiters meinte sie: „Der hl. Franz v. Sales hilft ihnen, ihre ersten Schritte zu machen.“
Erinnert euch dieser ersten Beweise der Liebe, sowie der Gnaden, die er euch Tag für Tag schenkt. Denkt immer daran, dass ihr in den Fußspuren unserer Guten Mutter dahingehen, dass ihr euch als ihre Kinder zeigen müsst nicht bloß durch eure Dankbarkeit, daran lasst ihr es ja nicht fehlen, sondern durch die vollständige Nachahmung ihrer Tugenden, ihres Apostolates und ihrer Liebe.
Ja, wir grüßen dich, verehrte Mutter, wir grüßen dich an diesem ersten Tag der Glorie im Angesicht der hl. Kirche. Unsere Wünsche und Gebete und vor allem unsere Treue werden auf deiner Stirne bald den Heiligenschein aufleuchten lassen.
Wenn wir, wie du es wünschst, lebende Abbilder des Erlösers sein werden, wenn wir unsere Schritte in seine Fußspuren setzen, wird man bei unserem Anblick sagen: Das sind in Wahrheit die Kinder der Guten Mutter Maria Salesia. Sie besitzen ihr Herz, das uns liebt, ihre Klugheit, die uns führt. Ihr Wort hat dieselbe Kraft, ihr Geist dieselbe Wirksamkeit!
Ja, so sei es, meine gute und ehrwürdige Mutter. Mach, dass wir Stunde für Stunde, Augenblick für Augenblick deiner ganzen Lebensweise folgen. Amen.
