Ansprachen

      

46. Ansprache an die Novizen, die dem Ehrwürdigen Pater Brisson ihre Namenstagswünsche ausgedrückt hatten, am 20.06.1896 (Aloysius).

Meine Kinder, es fehlt zur Freude unseres Festes nur noch eines: dass es nämlich dem P. Sequin wieder ganz gut gehe. Es geht ihm zwar nicht schlecht, wir wollen aber trotzdem beten, dass er wieder ganz gesund werde, mit all der Kraft und Energie, die ihm eigen sind. Wir beten zwar schon lange Zeit dafür, wollen aber mit ganzem Herzen darin fortfahren. Vergessen wir nicht, dass das Gebet für jene, deren Sorge wir anvertraut sind, in den Augen Gottes besonders kostbar ist, ein Gebet, das ganz und gar sein Herz gewinnt. Er erhört nicht bloß unsere diesbezüglichen Gebete, sondern erhört darüber hinaus auch noch all unsere anderen Wünsche und überhäuft alle Bedürfnisse unseres Herzens mit seinen Gunsterweisen…

Meine Freunde, bevor ich jetzt zu euch kam, habe ich alle Werke des hl. Bernhard durchgeblättert. Man kann nur staunen, wie intensiv sich der Heilige mit seinen Novizen beschäftigt hat. Der hl. Bernhard, der doch in unaufhörlichem Kontakt mit Papst Eugen III. stand, einem seiner früheren Novizen. Bernhard, der, man kann es behaupten, die Welt regierte. Kaiser und Könige hörten auf sein Wort auf sein Wort und baten ihn um seinen Rat. Jedermann nahm zu ihm seine Zuflucht, und er wies keinen zurück. Lest nur die Geschichte seines inneren Lebens durch: es scheint fast, als habe er auf der Welt nichts anderes zu tun gehabt als sich mit seinen Novizen zu beschäftigen. Ihnen gehörte seine beständige Sorge, ob er in Clairvaux, in Italien oder im Deutschen Reich weilte… Seine Aufmerksamkeit, seine Wunder kreisten um sie. Alles, was er in seinem Herzen trug, was er in seiner schönen und reichen Intelligenz, ja seinem ganzen so wunderbar begabten Wesen lebte, all das gab er seinen Novizen ohne jede Einschränkung weiter. Er verschwendet an sie in den väterlichen Ergüssen seines Herzens die liebenswürdigsten Namen und die anmutigsten Bezeichnungen der Hl. Schrift: Er nenn sie die Blumen des Gartens der Kirche, Blüten der Hoffnung, Blüten der Weinberge, die den Wein liefern sollen, der die Kirche erneuert, heilbringende Blüten, deren Düfte die ungesunden Einflüsse des Teufels zum Verschwinden bringen. Mit großer Freude verbringt er seine Zeit mit den Novizen. Ist einer von ihnen entmutigt und wendet sich an ihn, scheint es, als habe er von ihnen entmutigt und wendet sich an ihn, scheint es, als habe er jetzt nichts anderes mehr zu tun, als sich mit ihm abzugeben. Er redet ihm zu und tröstet ihn, er schreibt ihm kleine Briefe, und auf diesen Zettelchen steht das Heilmittel für alle Schwierigkeiten der Nahrung, der Kleidung, der Einsamkeit, des Rezitierens des Breviergebetes, des Studiums. Nichts entgeht dem Heiligen, nichts geht über seine Macht.

Weilt er inmitten seiner Novizen, so findet er für jeden von ihnen das tröstende Wort und errät die Bedürfnisse ihrer Seelen. Noch einmal: er scheint keine andere Arbeit gehabt zu haben als sich mit ihnen abzugeben. Wie gut erkannte er doch die Wichtigkeit eines guten Noviziates! Und in der Tat, meine Freunde, seid gute Novizen, dann seid ihr später eifrige und heilige Ordensleute. Ich habe diese Beobachtung (Bemerkung) schon sehr oft gemacht: der Priester ist die Fortsetzung des Seminaristen. Seht, schon über bald achtzig Jahre erstrecken sich meine Erinnerungen (Anm.: „Brisson war zum Zeitpunkt dieser Rede 79.“). Viele, viele Priester, die ich gekannt habe, sind schon in der Ewigkeit. Die Priestergeneration, die z.Zt. in unserer Diözese lebt, stellt nur einen winzigen Teil derer dar, die an mir vorüberzogen. Ich habe also viele Priester und Seminaristen gekannt und wiederhole: der Priester ist die Fortsetzung des Seminaristen. Niemals sah ich meines Wissens einen Priester, der später besser wurde. Theoretisch könnte dies geschehen, aber ich behaupte, dass dies eine Ausnahme darstellt. Ich meinerseits habe keinen erlebt.

Darum wundere ich mich nicht, dass der hl. Bernhard solch eine entscheidende Bedeutung dem Noviziat beimaß. Ich staune nicht, dass ich ihn voll so großer Sorge für seine Novizen erfüllt sehe, dass diese nicht ihre hl. Regel vernachlässigen, sondern sich in allen Tugenden des Noviziates betätigen. Ich wundere mich nicht über seine Geduld und Ausdauer, diese Pflanzen zu pflegen, die in den Gärten Gottes anwachsen.

Nehmt darum auch ihr, meine Freunde, das Noviziat äußerst wichtig. Seid gute Novizen, nicht halbe, und das durch eure Treue zu den kleinen Dingen, den scheinbar unbedeutenden Übungen. Liebt sie, liebt sie zärtlich, diese unscheinbaren Übungen des Noviziatslebens, wenn ihr gute Ordensleute werden wollt. Hierin liegt die Vorbereitung auf euer ganzes Ordensleben. Seid heute treu, dann wird die Gnade euch euer ganzes Leben treu bleiben, und euer Leben lang werdet ihr tüchtige, eifrige, einsichtige und arbeitsfreudige Oblaten sein. Gott wird mit euch sein. Er wird euch an der Hand halten. Am Tag eures Eintritts ins Noviziat nimmt er euch bei der Hand. Lasst diese göttliche Hand niemals los!

Was ich euch da vortrage, hab ich nicht in Büchern gelesen, ist nicht die Frucht meiner Studien. Ich spreche aus einer sehr langen Erfahrung heraus, die sich fünfzigmal-, hundertmal bestätigt hat.

Ich möchte gern viel öfter ins Noviziat kommen. Käme ich aber auch öfter, ich würde euch doch immer nur dasselbe wiederholen, wie der hl. Johannes es den ersten Gläubigen von Ephesus, wo er wohnte, und des Sonntags die Predigt hielt, immer die gleiche Aufforderung gerichtet: „Meine Kinder, liebt einander…“ bis die Gläubigen ihm sagten: „Vater, Sie sagen uns aber immer das gleiche…“ Darauf gab er zur Antwort: „Es ist das Hauptgebot des Herrn. Tut das, dann erfüllt ihr das ganze Gesetz.“

So sage auch ich euch: Erweist euch treu in den kleinen Übungen des Noviziates, seid gute Novizen, der Himmel ist da eingeschlossen! „Regnum Dei intra vos“ (Anm.: „Das Reich Gottes ist in euch.“). Das ist das ganze Geheimnis, alles gründet darin. Diese unscheinbaren Dinge, diese Nichtse, umschließen, wenn aus Gehorsam vollzogen, die göttliche Allmacht. Nehmt Wasser in eure hohle Hand und schüttet es über die Köpfe zahlloser kleiner Kinder, die noch nicht getauft sind. Damit öffnet ihr ihnen das Paradies. So ist es auch in einem gewissen Sinn mit den unscheinbaren Übungen des Noviziates… Was ist schon ein Wort, das euch entschlüpfen wollte und das ihr zurückgehalten habt? Was ist ein winziger Gehorsam, den ihr mit der ganzen Treue eures Herzens ausgeführt habt? … Das ist wie Wasser in der hohlen Hand. Die ganze göttliche Allmacht ist von eurer Treue eingeladen worden, diese unbedeutende Materie auszufüllen, und sie wurde so zu einer ungeheuren Gnade für eure Seele oder die Seele derer, die ihr eines Tages zu Gott zurückführt. Diese Wahrheit sah ich zu allen Zeiten sich verwirklichen und Erfolg haben.

Wie viele Priester habe ich gekannt! Es sterben von der Diözese Troyes jährlich etwa zehn. Wieviele kannte ich da während meines langen Lebens! Müsste ich die Lebensgeschichte eines jeden von ihnen erzählen, müsste ich ihre Grabesschrift verfassen, so bräuchte ich keine langen Untersuchungen anzustellen und den Verlauf ihres Lebens zu verfolgen… Ich würde lediglich betrachten, was sie während ihrer Seminarjahre getan haben. Dann würde ich mich nicht täuschen, wenn ich daraus mein Urteil bilden würde. Die Gnade, die man da empfängt, ist mit nichts zu vergleichen. Diese Gnade verliert man nicht leicht im Laufe seines Lebens. Dazu wäre, glaube ich, ein Verbrechen, eine wahre Schandtat vonnöten. Gewiss mag eine gelegentliche Schwäche vorkommen, die diese Gnade schwächen und mindern kann. Das würde sie aber nicht vollständig demolieren.

Wollte man also, meine Freunde, die wahre Geschichte eures Lebens schreiben, brauchte man dafür nicht in den kommenden Jahren nachzuforschen. Es genügte die Geschichte eures jetzigen Lebensabschnittes. Seht darum genau zu, wie ihr jetzt seid, und sagt euch: Genauso werde ich später sein. Die Früchte, die ihr eines Tages hervorbringen werdet, sind haargenau das Resultat eures jetzigen Noviziates.

Ich übertreibe nicht, meine Freunde. Zwar habe ich das nicht in einem theologischen Traktat gelesen, diese Bücher sagen derartiges nicht… Und doch ist es wahr. Ich erlebte es in all den Priestergenerationen, erlebte es aber auch in mehreren Generationen von Ordensmännern und Ordensfrauen. Denn mein ganzes Leben lang beschäftigte ich mich mit Ordensleuten. 45 Jahre war ich der Beichtvater der Heimsuchung. Die Beobachtung, die ich bei Priestern machte, gilt in gleichem Maße für die Ordensleute. Das Noviziat ist alles.

Ich ging einmal mit einem in Waldkultur sehr erfahrenen Förster durch den Wald. Woher kommt, so fragte ich ihn, der totale Unterschied zwischen diesen zwei Eichen, die da beide nebeneinander stehen? Die eine ist schön gewachsen, die andere ganz verkrüppelt und wertlos. Warum das? Sie sind doch auf demselben Boden zur Welt gekommen, stammen von demselben Baum, von demselben Reis. Die zwei Eicheln, aus denen sie wuchsen, glichen sich in jeder Hinsicht… Und der Fachmann antwortete mir: Nein, die beiden Eicheln waren nicht von gleicher Qualität. Die ganze Natur der Eiche hängt nämlich allein von der Qualität der Eichel ab, aus der sie stammt. Die eine fällt auf günstigen Boden. Mag das Erdreich auch gut sein, ist die Eichel mehr oder weniger schlecht veranlagt, bringt sie nur einen verkrüppelten Baum hervor. Denkt daran, meine Freunde. Zwei Eicheln stammen von demselben Baum und Reis, fallen nebeneinander auf denselben Boden und bringen doch zwei völlig verschiedene Eichen hervor. Die eine einen mächtigen Baum, aus dessen Äste man Schiffe baut und der Bildhauer schöne und feine Statuen schnitzt… Die andere dagegen hat weiches und schlaffes Holz ohne Widerstand und Elastizität.

Ein Bild des Noviziates.

Seid darum ernst, seid Männer! Bleibt nicht ewig Kinder, seid keine Gymnasiasten und Bengel. Beobachtet pünktlich alle Übungen des Noviziates. Jede einzelne Übung, so unscheinbar sie euch erscheinen mag, stellt eine wichtige und beachtliche Sache dar, die es aus Liebe zu Gott und zu den Seelen, die wir zu Gott führen berufen sind, ernst zu nehmen gilt…. Und jedem von uns ist zweifellos eine große Zahl von Seelen zu retten bestimmt. Das wollen wir uns zu Herzen nehmen.