37. Unterweisung des Noviziates am 01.12.1894.
Heute, liebe Kinder, möchte ich euch ein Wort der Guten Mutter sagen. Die Oblaten des hl. Franz von Sales befolgen eine Regel, die der hl. Stifter einst den Priestern des hl. Hauses von Thonon gegeben hatte. Er hatte Satzungen aufgestellt, die eine Zeit lang beobachtet wurden. Das Haus von Thonon hat die Wirren und Revolutionen nicht überlebt. Wir sind die Erben des Geschicks dieser Priester des hl. Hauses, d.h., wir haben die Regel geerbt, die der hl. Franz v. Sales ihnen übergeben hatte und wir haben den Geist übernommen, den er ihnen einflößen wollte.
Dieser Geist des hl. Stifters muss aber erst noch erklärt werden. Liest man den hl. Franz v. Sales zum ersten Mal, gewahrt man darin dieses und jenes, übersieht aber noch nicht alles. Man erfasst noch nicht sofort alle Mittel, die er für die Heiligung der Seelen bereit hält. Darüber heißt es eine Sonderstudie anstellen. Diese nahm in weitem Maße die Mutter Maria Salesia („die Gute Mutter“) vor, eine Seele von hoher Intelligenz und hervorragender Heiligkeit. Sie hat diesen Geist kommentiert und die Regeln des Heiligen in ihrer Kommunität angewandt. So wirkte sie wie eine Erneuerin und zweite Lehrerin des Lebens der Heimsuchung. Sie hat aufgezeigt, wie sämtliche Worte unseres Heiligen angewandt werden müssen. Mutter Maria Salesia hatte schon im Noviziat eine göttliche Eingebung erhalten, als sie mitteilte, dass eines Tages eine Gesellschaft von Priestern nach dem Geist des hl. Franz von Sales und dem Wunsch der hl. Mutter Chantal entstehen würde. Letztere hatte ja zu wiederholten Malen „unseren seligen Vater“ gebeten, eine Gesellschaft von Ordensmännern zu gründen, die nach den Regeln und dem Geist der Heimsuchung leben sollte.
Der Heilige gab zur Antwort, dass es zurzeit an den nötigen Berufen fehle und fügte hinzu, es sei nicht so leicht, welche zu finden. Die Männer, sagte er, räsonieren zu viel, besonders nach gewissen Studien. Und diese Rechthaberei führe allzu oft auf den Holzweg. Bei Frauen täte man sich leichter, sie nähmen leichter an, was man ihnen sagt. „Meine Tochter“, fügte er hinzu, „ich habe bereits den Versuch unternommen, Priester dieses Geistes zu gründen, vermochte aber nur anderthalb zu formen.“ Er war aber im Begriff, mit der hl. Franziska daran zu arbeiten, als er starb.
Nun war es die Gute Mutter Maria Salesia, die die Lehre des hl. Franz v. Sales zur Darstellung brachte. Sie zeigte auf, auf welche Art und Weise seine Ansichten verwirklicht werden könnten. Einen Teil ihrer Überlegungen hat sie schriftlich niedergelegt. Während einer Zeitspanne von vierzig Jahren konnte ich ihren Weg verfolgen und wurde Zeuge von erstaunlichen Dingen in ihrer Kommunität. Sie verstand es, die Herzen zu vereinen, so dass ich dieses Haus als ein von Heiligen bewohntes Heiligtum betrachtete. Der Gehorsam wurde darin auf eine bewundernswerte Weise geübt, die Gelübde vollkommen beobachtet. Und die Gute Mutter gab das gute Beispiel, ihre Gegenwart zog die Segnungen und ihr Gebet die Gnaden der Stärke und des Großmutes auf die Seelen herab, die in ihre Nähe kamen. Sie übte auf Priester, Bischöfe, Weltleute, auf Gelehrte und Beamte Einfluss aus, die sie um Rat fragten. Die Gute Mutter war sehr einfach und sprach sehr wenig. Niemals spielte sie sich als Gelehrte oder Rednerin auf, sondern antwortete kurz und bündig, aber klar. Kam man sie besuchen, so kehrte man mit einer besonderen Gabe Gottes beschenkt zurück. Alle waren von ihr entzückt: „Sie öffnete mir das Verständnis für…“ … „Sie sagte mir, was Gott von mir wünschte…“
Ihr Lebenswandel war von einer absoluten Heiligkeit und Reinheit. Ich war ihr ganzes Leben lang Zeuge davon, und sie hat es mit selbst wiederholt versichert. Kein Wunder, dass Gott sie mit so vielen Erleuchtungen begnadet hat.
Von ihrem Noviziat an erhielt die Gute Mutter Eingebungen, dass Gott Priester und Apostel wünsche, die im Licht des Evangeliums auf eine ganz eigene Weise, mit besonders gearteten Gnaden des Erlösers, wie sie bislang den Menschen verborgen waren, ausgestattet werden sollten und die ein unvergleichlich hohes Gut den Seelen mitteilen würden. Jedes Mal, wenn sie mir das ankündigte, fügte sie zur Bekräftigung des Glaubens hieran eine andere Tatsache der natürlichen Ordnung an, die sie mir voraussagte, und jedes Mal ging diese Voraussage in Erfüllung.
Niemals habe ich die Gute Mutter gegen die Liebe fehlen sehen. Gern hätte ich bei ihr irgendeine Unvollkommenheit entdeckt, doch sie war in allem so vollkommen, dass ich nicht den geringsten Zweifel hegen konnte an ihren Prophezeiungen. Wenn wir unser zukünftiges Arbeiten nach ihrem Tun beurteilen wollen, diese einfache Frau eingeschlossen in ihr Kloster – dann besteht nicht der geringste Zweifel, dass Gott uns zu großen Wirkungen in seiner Kirche, in den Seelen und in der ganzen Welt beruft. Gott offenbart ja bereits in den verschiedenen Missionen und Seelsorgewerken, mit denen sich Oblaten befassen, sein Erbarmen auf eine auffallende Weise. Und er hat bewiesen, dass die zur Heiligung gebrauchten Mittel sehr sicher waren. In der Tat hat man damit die Gewissheit, dass man den Willen Gottes in seiner Vollkommenheit erfüllt.
Um die Gute Mutter richtig zu verstehen, muss man ihre Lebensbeschreibung lesen. Da ist vor allem die Rede, von der Familie, vom Priestertum, von den religiösen Orden. Da sieht man ihre Ehrfurcht vor den Fragen des Glaubens, ihr Gottvertrauen, ihr Vertrauen in die Sakramentalien, in die Beichte und die Kommunion. Der Ordensmann, der in diesem Geist lebt, wird von einem starken Glauben bewegt, und diesen Glauben teilt er andern mit kraft seiner Treue, d.h., er gibt weiter, was er selbst besitzt. Begreift ihr, meine Freunde, welch große Sendung ihr da zu erfüllen habt? Bittet Gott um die Gnade, sie gut zu erfüllen. Aus diesem Grund heißt es, sich gründlich darauf vorbereiten und treu sein Direktorium leben! O glückselige Unterwerfung, wenn sie mit Mut und Entschlossenheit angepackt wird! ihr werdet euch überzeugen können, wie angenehm und leicht das fällt, wie tapfer man Schmerzen erleidet, und ein Joch trägt, das man ansonsten nicht zu meistern vermöchte. Erweist euch darum immer treuer in der Erfüllung der kleinen Dinge des Gehorsams der Heiligkeit. Meine Freunde, so lebt man in der Intimität Gittes und trennt sich davon lediglich, um den Nächsten zu dienen. Man gibt sich ungeteilt seinem Noviziat und seinen Mitbrüdern hin, mit denen man dasselbe Noviziatsjahr verbracht hat. Unser Herz ist dann bereit, mit Liebe alles anzunehmen, was uns umgibt. Dazu braucht es aber Erleuchtungen, und um diese müssen wir uns an die Gute Mutter wenden. Weilte sie noch auf Erden, würde sie uns ein kleines Wörtchen sagen, dass wir verstünden, was uns abgeht.
Ja, bittet sie, sie möge euch alles erwirken, was ihr braucht. Unter allen Lebensbeschreibungen der Heiligen kenne ich wenige, die erbaulicher wären als die der Guten Mutter. Als alles nach Lourdes oder Ars pilgerte, wollte ich nirgendwo hingehen, weil mir dünkte, ich fände ja dort ja doch nichts, was sich mit dem vergleichen ließe, was ich hier erlebt habe an Ordensgeist, an Glaubensgeist, an Mitteln zur Gottvereinigung oder zur Erlangung der Gnaden, die ich wollte. Darum empfehle ich euch dringend die Verehrung der Guten Mutter. Ahmt sie nach in der Pünktlichkeit und Treue.
Ich entleihe der modernen Chemie einen Vergleich, und das sei heute mein letztes Wort. Ich möchte das Noviziat ganz und gar mit der Galvanophysik (d.h. mit der Erzeugung metallischer Niederschläge durch Elektrolyse) vergleichen. Nehmt ein Gefäß zur Hand, in dem sich eine Flüssigkeit befindet, eine Mischung, die zu einer Galvanoplastik geeignet ist. Schüttelt jetzt das Ganze, dann bringt es nichts hervor. Lasst ihr es aber zur Ruhe kommen, sich auf den Boden niedersetzen, dann erlangt ihr das komplette Abbild des Modells, habt eine Form, habt alles. So ist auch das Noviziat eine vollständig ruhende Flüssigkeit, die bewirkt, dass unsere Treue und Pünktlichkeit genauestens den gewünschten Typus in uns realisiert. Rührt man dagegen die Mischung auf irgendeine Weise auf, kommt nichts zustande. Lasst euch darum presse und formen durch die tausend Kleinigkeiten des Noviziatsalltages.
