Ansprachen

      

30.  Ansprache zum Fest Mariä Opferung am 21.11.1892.
- „Das Reich Gottes ist in euch.“ - (Lk. 17,26).

Meine Kinder, jeder religiöse Orden hat seine eigenen Aktionsmittel, seine individuellen Hilfsquellen. In seiner Lehre und seiner Lebensweise verfügt er über alles Nötige, um ans Ziel zu gelangen: bei den einen ist es das Apostolat, bei den anderen die Wissenschaft, bei den Dritten die heiligen Geheimnisse der Einsamkeit. Jeder Orden findet bei sich selbst die Hilfsquellen, den Lebenssaft, um zu leben und Gutes zu tun.

Welches ist nun bei uns diese gute Quelle und Rüstkammer? Wo nehmen wir unsere Kampfwaffen her? Welches ist unsere Munition, um gegen das Böse zu Felde ziehen? … All das findet sich in dem Wort des Herrn: „Das Reich Gottes ist in euch.“ Gottes Reich, um eure persönliche Heiligung und die Erhebung eurer Seelen zu wirken, wohnt in eurem eigenen Inneren. Und das gilt auch für das Reich Gottes in den Seelen der anderen: für unsere Seelsorgewerke, für unseren Kampf, für das religiöse Leben, die Missionen, kurz für alle unsere Werke, zu denen die Vorsehung uns ruft.

Was heißt das? Folgendes:

Alle unsere Geheimnisse, Hilfsquellen und Kräfte, das ist das Reich Gottes in unseren Herzen. Regiert Gott in uns, dann sind wir heilig und unbesieglich. Wodurch? Eben Kraft des göttlichen Reiches in uns. Wer spricht dann? Gott. Zu wem spricht er? Zu dem, der auf dem Weg der Gebote vorangeht, der geradewegs auf Gott zugeht, ohne sich um sonst etwas zu kümmern. Denn alles Übrige ist eingegrenzt durch die Grenzsteine, die seinen Weg markieren. Das können folglich keine bedeutenden Aktionsquellen für unseren Eifer sein, was da außerhalb unseres Weges liegt! „Das Reich Gottes ist in euch.“

Es kommt somit alles darauf an, meine Freunde, dass das Reich Gottes in euch aufgerichtet wird, denn dann seid ihr unbesiegbar. Weder Widrigkeiten noch Prüfungen, weder Leben noch Tod werden dann noch Macht über euch haben. Da habt ihr das ganze Geheimnis! Ich übergebe es euch hiermit. Ist es wirklich so geheim? Jawohl, nicht jeder kann es finden. Wer hat es aber gefunden? Unser hl. Stifter. Und wer hat dieses Geheimnis in hervorragendem Maße in sein (ihr) eigenes Herz eingepflanzt? Die Gute Mutter Maria Salesia. Sucht gründlich, ihr werdet nirgendwo derartig praktische Anwendungen finden wie bei ihr. Wer war die Gute Mutter? Eine einfache Frau, Tochter eines Gastwirts. Ihre erste Erziehung erhielt sie im Kreise der jungen Mädchen ihres Heimatdorfes. Und siehe da, auf ihr lastete schließlich ein Teil des Geschickes der hl. Kirche, eine ungeheure Last. Warum wurde gerade sie dafür ausgewählt? War es ihr großer Eifer, ihre ungewöhnlichen Geisteskräfte, ihre weit reichenden Beziehungen? Nein, es war ganz einfach das Reich Gottes in ihr. Darum hat sie so Schule gemacht.

Auf den ersten Blick wirkt ihre Lehre unscheinbar und ohne großes Gewicht, man versteht sie nicht ganz. Prüft man aber genauer und studiert man ihr Gesamtwerk, „dann führt ihr gesamtes Leben zur Vollkommenheit“.

Das sollte unsere Hauptübung jeden Tag unseres Lebens, ja Tag und Nacht bilden. In unserem Herzen sollten wir all die Hilfsmittel einpflanzen und entfalten, die uns das Direktorium an die Hand gibt: Gehorsam, Gegenwart Gottes in uns, Sorge für die uns anvertrauten Seelen, die wir zu einer liebenden Unterwerfung führen. Damit tritt Gott in den Vollbesitz all seiner Rechte ein, und die Schöpfung kann seinem Blick nicht mehr entgleiten. Hand und Herz Gottes sind uns dann immerzu gegenwärtig, in jedem Augenblick unseres Handelns und in allem, was wir wollen: „Mein Vater schafft bis zu diesem Augenblick.“

Gott ist das Fundament aller Ordnung im geistlichen Bereich, im intellektuellen und sogar im materiellen Lebensablauf. Ist die Ordnung aber auf der ganzen Linie hergestellt, dann tritt Gott in all seine Rechte und Besitzungen ein, wie Adam und Eva im Paradies. So wird das Wort des Vaters realisiert: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Der Plan Gottes bei der Schöpfung erfährt somit seine Verwirklichung. So ermöglicht man es Gott, seine Vorsehung  weiterzuführen und euch durch das Medium des Gehorsams zu sagen, was ihr tun sollt. Er verlässt euch dann nicht mehr. Immer, wenn ich im kleinen Sprechzimmer der Heimsuchung von Troyes eine Frage an die Gute Mutter richtete, sah ich, wie sie sich sammelte, als wolle sie ihr Ohr in die Richtung des Tabernakels wenden und die Stimme des in ihr herrschenden Gottes vernehmen.

Schlugen unerwartete Prüfungen ihr Herz, litt sie grausam darunter. Sie opferte dann die Trümmer ihres gebrochenen Herzens als Ganzopfer dem Herrn auf: Du hast es so gewollt, Herr, dein Wille geschehe!

In den kleinsten Einzelheiten ihres Lebens hatte sie die Gewohnheit, sich an die beständige Gegenwart Gottes zu halten. Aber ist es überhaupt möglich, immer an Gott zu denken? Es ist sogar sehr leicht! Man muss es nur wollen. Und für uns ist es eine unerlässliche Bedingung, denn ohne das leisten wir nichts. „Möget ihr Gott hingeopfert sein!“ Eine Aufopferung ist bereits geschehen. Vervollständigt jetzt dieses Opfer und vollendet es bis zum Himmel! Auf dem Opferaltar vollzieht sich zeit eures ganzen Lebens euer Offertorium, und die Konsekration (Wandlung) geschieht im Augenblick eures Todes. Niemand lässt Brot und Wein auf dem Altar verkommen, das Opfer muss fortgesetzt werden bis zum Augenblick des „Es ist vollbracht“.

Hier geht es allein um eine Frage der Gewöhnung. Ruft Gott auf euch herab zu jeder ganzen Stunde, halben Stunde, Viertelstunde. Je treuer ihr ihn ruft, umso sicherer wird er da sein und euch eingeben, was ihr tun sollt.

Diese Art vorzugehen bedeutet für euch alles. So verfügt ihr über Rednertalent, über die Gabe eines guten Urteils. Was Letzteres betrifft, heißt es darum beten, denn am guten Urteil gebricht es auf Erden am meisten: das gesunde Urteil in den zeitlichen wie den geistlichen Dingen. Das gute Urteil, das die Seele, das den Willen bereit macht. Jenes Urteil Gottes, das unfehlbar ist und uns geneigt macht, richtig zu wollen und gut zu verstehen.

Man findet noch Tugenden auf Erden, selten aber gutes Urteil. Für den Oblaten stellt dieses jedoch eine wesentliche Qualität dar, „die Wurzel des Baumes“. Wer gibt dem Menschen die Kraft, seine Natur zu überwinden, übernatürlich für Gott zu handeln? Erbittet es vom Herrn: „Gib mir, Herr, die Weisheit, als Beisitzerin deines Thrones.“ Wer erbat von Gott diese Weisheit? Der weiseste der Menschen, Salomo: „Herr gib mir ein gutes Urteilsvermögen, das deinem Throne zur Seite steht, damit es auch mich bei all meinen Unternehmungen inspiriere und bei allen Arbeiten mir beistehe.“ Denn das gute Urteil ist Mittel, uns mit Gott zu vereinigen vermittels der Wahrheit. Uns aber auch mit dem Nächsten zu vereinigen. Denn kraft des guten Urteils durchschaut man die Dinge und stellt sie an den richtigen Platz.

Richtet diese Bitte oft an den Herrn! Nur dank seiner beständigen Gegenwart gewinnen wir ein gesundes und wahres Urteil. Halten wir Gott die Treue, dann wird auch Gott uns in diesem Punkte die Treue wahren. Welche Geistesarbeit wir auch immer leisten müssen, Gott gibt ohne Grenzen. Trennt ihr euch aber von Gott und lasst ihn nicht in euch Raum gewinnen, so geratet ihr auf Abwege.

Liebe Freunde, wir wollen darum heute Abend vor der Zeremonie der Gelübdeerneuerung, der Hingabe unserer Seelen an Gott, ihn um Gnade bitten, er möge sein reich fest in uns verankern. Denn das ist Grundlage all unsere Verpflichtungen. Wohnt er in uns, dann sorgt er für alles. Sobald der Gehorsam gesprochen hatte, gab sich ihm die Gute Mutter ohne Vorbehalt und Einschränkung hin, weil Gott im Spiele war. Wenn ihr Gott ein Geheimnis seines Herzens, ein Geständnis seiner göttlichen Liebe kundtun wollte, brauchte sie nur ihr Ohr weit öffnen. Dann war Gott da, um sie zu instruieren.

Meine Freunde, bittet den lieben Gott, er möge uns immer nahe bleiben und sein Reich in allen Seelen, die uns nahen, aufrichten. „Dein Reich komme zu uns!“ Amen.

                        Gott sei gebenedeit!