Ansprachen

      

27.  Konferenz vom 03.10.1891.
- Die Disziplin in unseren Kollegien -

Liebe Freunde, wir wollen heute eine ernste Frage angehen: die Leitung unserer Kollegien, den Erfolg derselben in materieller, geistiger und übernatürlicher Hinsicht.

Zunächst spreche ich nur von unseren Kollegien und jenen, die ihnen gleichen, also nicht von jenen berüchtigten, wo die Lehrer ihre Arbeit verrichten, weil es sein muss. Wo sie nach ihren eigenen Vorstellungen vorgehen, alles nach ihrem Geschmack würzen und ihr Amt nach Laune und Charakter versehen. Von euch verlange ich anderes, meine Freunde. Ihr seid zwar nicht alle Ordensleute, wünscht aber gleichwohl alle am Guten mitzuwirken, das diesem Ordenshaus als Ziel vorschwebt. Darum darf es nicht zweierlei Methoden und verschiedenartige Sehweisen geben. Wir können auf eine sichere Erfahrung zurückschauen. Die Pläne liegen aufgrund dieser Erfahrung fest. Danach richten wir uns und gehen niemals davon ab, sind sie doch Furcht, wie gesagt, einer langen und ernsten Erfahrung, die mit den Verhältnissen, mit dem Charakter der Kinder und jungen Leuten gemacht wurde. Darum muss ich euch bitten, diesem Reglement bedingungslos zu folgen.

Sprechen wir von den Aufsichten.
Das Reglement ist ein Leitfaden, den ihr in Händen habt und der  nur die großen Linien angibt. Einzelheiten findet ihr darin nicht. Lasst uns darum jetzt über Einzelheiten sprechen.

Es ist den Schülern verboten, während der Studierzeit zu sprechen, und es ist fünfzigmal mehr dem Aufseher verboten, zu plaudern. Das erste Mal, dass ich im Kleinen Seminar unseren Aufseher reden sah, geschah nach sechs oder sieben Monaten. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, wie seine Stimme klang. Niemals machte er eine Bemerkung, nicht einmal halblaut. Wie also vorgehen? So wie es angegeben ist. In jeder guten Verwaltung hat jeder seine Rolle zu spielen, aber keiner nach seinem eigenen Belieben. Jedermann ist Sklave des Reglements (Statuten, Vorschriften), und niemand handelt nach seinem persönlichen Empfinden. Dazu bedarf es einer gewissen Begabung. Wer ein gesundes Urteil und den Kopf ausgeglichen hat, begnügt sich nicht damit, die Vorschrift exakt zu erfüllen, sondern tut es mit Herz, wie Franz v. Sales sagt, er tut es mit Hingabe. Arbeitet er nur mit Exaktheit, wird die Maschine nicht entgleisen, aber es genügt nicht. Ihr müsst das Herz mit einbringen, die Hingabe und das Gebet. Das spüren die Schüler. Haltet euch in Abhängigkeit von Gott und dem Gehorsam. Dann bringt ihr euren Schülern nicht bloß euren Einfluss, sondern etwas Besseres, nämlich „Geistessalbung“. Kein Schüler, so roh er sein mag, vermag diesem Einfluss zu entgehen. Man nimmt dann auch euren Tadel an. Ein Familienvater gibt seinem Jungen, der sich schlecht aufführt einen Klaps. Der Lausejunge ist zwar darüber nicht glücklich, weiß aber, dass sein Vater ihn trotzdem gern hat. Befleißigt euch darum durchaus einer gewissenhaften Genauigkeit, aber nicht der Exaktheit einer Maschine. Mit dem Fundament des religiösen Glaubens haucht ihr eurer Erziehung Leben ein und verleiht ihr einen wirksamen Schwung.

Ein Wort über den Aufseher während der Freizeit.
Ich weiß nicht, wie mich ausdrücken, ich möchte niemanden beleidigen… Aber niemals waren die Aufsichten in St. Bernhard so schlecht wie heute. Damit meine ich alle ein bisschen. Die Rekreation (Mittagspause) ist nicht in Ordnung in dem Sinn, dass man sie nicht inmitten seiner Schüler verbringt. Man gebraucht ein bequemes System und gleicht ein wenig dem Säulensteher Simeon: Man überwacht von der Höhe einer Säule aus, mit Hilfe einer Fernbrille überschaut man alles. Ich erkläre aber, dass diese Aufsicht auf Distanz keine Aufsicht ist. Wie wollt ihr hören, was man spricht, wie sehen, was man treibt? Ihr solltet mitten unter euren Schülern sein und ihre Gespräche verfolgen. Pater Gilbert schärft ständig diese Gegenwart mitten unter den Schülern ein, und er hat damit recht. Er sagt, man müsse mit den Schülern sprechen, die sich da miteinander unterhalten. Reden sie nicht, so soll man in ihrer Mitte auf und ab gehen, und sie zum Spielen bringen. Sind sie schon ältere Schüler, so geht mit ihnen spazieren und sprecht mit ihnen. Es gibt nichts Besseres als das, das ist Vollkommenheit. Erziehen kann man einen jungen Menschen zehnmal besser in der Freizeit als zu irgendeiner anderen Zeit. Wem der Disziplinpräfekt das also nahelegt, sollte es so machen. Natürlich kann man nicht immer Gespräche führen, denn während man sich den einen widmet, vernachlässigt man die anderen. Es gibt da Grenzen und es ist schwierig, immer das Richtige zu treffen. Das beste ist es, ganz einfache vorzugehen, dann wird es klappen. Haltet euch jedenfalls bei ihnen und in ihrer Mitte auf.

Kommt nun ein Verstoß während des Studiums oder der Pause vor, was ist dann zu tun? Ihr seid der Aufseher, und die Hausordnung regelt euer Vertrauen. Wovor ihr euch am meisten hüten müsst, ist, euch persönlich ins Spiel zu bringen, es zu eurer persönlichen Sache zu machen und euch mit dem schuldhaften Schüler anzulegen. Wollt ihr euch mit ihm schlagen? Der Schüler wird alles tun, um Recht zu bekommen. Ihr geht nun auf ihn los, als wärt ihr persönlich von ihm beleidigt worden, wollt euch rächen. Er verteidigt sich und hat damit recht. Befolgt jetzt einzig die Vorschriften: schreiben sie vor, zu bestrafen, dann tut es, weil es das Gesetz so will. In einem andern Fall reserviert die Hausordnung die Strafe dem Direktor oder dem Disziplinarpräfekten. Überlasst es dann den Beiden. Denn dann seid ihr selbst davon dispensiert, es geht euch nichts mehr an. Um so zu reagieren, bedarf es freilich eines großmütigen Herzens und einer bewährten Tugend. Euer Gehorsam wird nur umso schöner und verdienstlicher, wenn ihr euch gewissenhaft an den Direktor des Hauses oder den Disziplinarpräfekten haltet. Jedes Mal hingegen, wo ihr, das nicht tut, sondern selbstherrlich handelt, mindert ihr euren Wert und verliert an Stärke. Aber der Präfekt und vor allem der Direktor ist zu gut und glaubt alles, was die Schüler ihm erzählen… Da bleibt nur noch eine Möglichkeit: setzt den P. Gilbert oder den P. Fischer, die Aufseher, in Kenntnis. Diese beiden halten sich nicht für unfehlbar. Wenn sie zur Beichte gehen, nehme ich an, dass sie sich wie alle anderen anklagen: „Vater, ich habe gesündigt.“ Ob sie nun so oder anders entscheiden, kümmert euch nicht. Bringt ihr jedenfalls das Opfer, das euch abverlangt wird, Denn das geht euch sehr wohl an und ist für euch wichtig, für euch selbst, aber auch für die gute Ordnung des Hauses. Alles Übrige ist nicht mehr eure Sache und kann euch nicht mehr zum Vorwurf gemacht werden.

Ein anderer Fehler, vor dem man sich hüten muss, ist, man sagt: Ich halte mich genau an das, was mir befohlen wurde und tue keinen Handstreich mehr. Das wäre traurig, solch ein Standpunkt, es wäre der Standpunkt eines gewöhnlichen Angestellten oder Tagelöhners. Ihr sollt ja euer ganzes Herz, euren ganzen guten Willen zum befohlenen Werk mit einbringen. Selbstlose Hingabe sollte unseren ganzen Lehrkörper charakterisieren. Um sich also eine Mühe zu ersparen, darf man sich nicht hinter seinem Auftrag verschanzen: Das habe ich zu tun, der Rest kann zugrunde gehen, wenn er will, das geht mich nichts an, ich halte mich an mein Gebiet… Das wäre eine böse Sache, gerade zur gegenwärtigen Zeit.

Denn Erziehung ist zu einer äußerst schwierigen Angelegenheit geworden. Alle Anstrengungen der guten, aber auch der schlechten Menschen zielen heutzutage daraufhin ab. Da handelt es sich um keine Allerweltsarbeit, sondern ein Werk von kapitalem Interesse. Kommt man nun eines Tages zu euch und stört euch zu irgendeiner Stunde, tut dann, um was man euch im Namen der Allgemeinheit bittet. Gebt euch konstant und uneingeschränkt allen Arbeiten hin, die euch begegnen: das war für Franz v. Sales die große Verhaltensregel schlechthin. Einen Dienst erweisen, dazu braucht man im Allgemeinen keine spezielle Erlaubnis, wenn es nur kurze Zeit beansprucht. Eine Erlaubnis brauchen wir, wenn es sich um einen längerdauernden und wiederholten Dienst handelt.  Stellt euch willigen Herzens zur Verfügung. Gibt es einen erfreulicheren und liebenswürdigeren Anblick in unseren gegenseitigen Beziehungen? Was zeugt mehr von einem Christen und einem Ordensmann als das?

Aber man hat doch schließlich anderes zu tun… Es ist so leicht, sich hinter seinen Pflichten zu verschanzen. Das entspricht aber nicht unserem Geist und unserer Verhaltensweise. Ich hätte mein ganzes Leben nicht so handeln können. Jemand stört euch… Man brummelt zwar innerlich ein bisschen, tut aber dann doch bereiten Herzens, worum man gebeten wird. Gewiss wäre es vollkommen, innerlich nicht zu brummeln. Setzen wir da unsere „Familientugenden“ ein: Die Liebe, Herzlichkeit, Willfährigkeit und Zuvorkommenheit des hl. Franz v. Sales. Das ist für uns, vergessen wir es nie, eines der Mittel, die meisten Verdienste zu sammeln. Jedenfalls gewinnen wir dadurch den stärksten Einfluss auf unsere Schüler: durch die Einheit des Herzens mit unseren Mitbrüdern.

Da ist ein Spaziergang mit den Schülern fällig: niemand bietet sich an, die Aufsicht dabei zu übernehmen. P. Fischer bittet Sie nun um diesen Dienst. Aber ich bin doch nicht an der Reihe! Das geht mich doch nichts an! … Wenn nun ein anderer dasselbe sagt? Ein guter Ordensmann denkt: Ich hätte zwar anderes zu tun, aber da niemand sich findet, mach ich es. Ihr antwortet vielleicht: Mit dieser Methode kommt man aber nicht weiter. Man weiß ja nie, was einem bevorsteht… Aber das ist nun einmal so auf der Welt: der Kaufmann, der Bankier, sind sie nicht auch derlei Zufällen ausgeliefert? Legen wir darum jeden Morgen unsere Hand in die Hand Gottes und nehmen wir aus ihr alle unvorhergesehenen Dinge entgegen, alles, womit wir nicht rechneten und was wir uns nicht im Voraus zurechtlegen konnten.

Fällt uns das leicht? Nein. Jeder hat seine Persönlichkeit, seinen Charakter, seine Gesundheit. Wenn jedermann nachgeben und alle Wille, die uns umgeben, mit dem unseren eins werden müssen, dann ist das gewiss nicht leicht. Da heißt es, zur Gnade Gottes seine Zuflucht nehmen. Hüten wir uns vor allem, egozentrisch zu werden, uns auf unser kleines Recht zu versteifen. Seien wir stets des Rechnungsgrundsatzes eingedenk: „Ein Übermaß an Recht wird leicht zu einem Übermaß an Unrecht.“ Wir müssen lernen, auszuziehen aus der eigenen Person, aus der eigenen Art zu urteilen, zu handeln, und zu meinen. Immer wenn wir einen Dienst, ein Amt, eine bestimmte Beschäftigung übernehmen, sollten wir absehen von unserem eigenen Charakter und der eigenen Meinung. Ich weiß sehr wohl, dass ich da viel von euch verlange, aber ich bin berechtigt, von euch viel zu verlangen. Was ihr da nämlich tut, garantiert das größtmögliche Gut, den größtmöglichen Erfolg. Es ist das Ziel aller Anstrengungen von guten Menschen und selbst der Kirche: die Erziehung aus dem Christentum und den Tiefen des Gewissens zu gestalten. Wenn man das Testament des Generals Boulanger dagegenhält, der Selbstmord auf dem Grab einer Frau beging, „bevor er ins Nichts einging“… Die jungen Leute lesen das. Sie hören von Gambetta, der durch die Hand einer Frau getötet wurde. Und so könnten wir fortfahren. Wenn ihr nicht starken Mutes vorgeht, endet auch ihr beim Nichts. Jede hohe Sendung hängt vom Opfermut der Person ab, die damit betraut ist. Führt auch ihr auf diese Weise eure Sendung aus, welches Gesicht sie auch haben mag: ob sie in Griechisch, Latein, Mathematik, Deutsch oder Englisch besteht, ob in einer Aufsicht oder in der Disziplin.

Verbindet all das mit der Heiligung eurer eigenen Seele und der der anderen. Denn gerade das ist eure wahre Sendung. Ihr seid keine Beamte und keine Mitglieder eines beliebigen Lehrkörpers. Ihr seid die Hausmeister (Türhüter) der Kirche Gottes und leistet einen höchst aktiven Beitrag zu Nachwuchs. Die Resultate eurer Arbeit sind solid und unabschätzbar. Habet also Mut und haltet euch auf der Höhe eurer Berufung!

Ich wäre aufs tiefste enttäuscht, wenn ich wieder erführe, was schon öfters geschah, dass man sich von diesen Grundsätzen entfernt, darüber nicht genug nachdenkt und nicht auf die Schwierigkeiten achtet, die uns dann begegnen, wenn wir unsere Einsatzfreudigkeit nicht mit dem Gehorsam verbinden, wenn wir also nicht auf die Tugend achten, zu der ich euch da aufrufe: „Wenn der Herr das Haus nicht baut, dann mühen sich umsonst, die es bauen.“ Hier heißt es immer wieder vor allem anderen zum Gebet seine Zuflucht nehmen. Ich habe euch Vorwürfe gemacht. Doch jetzt muss ich euch auch danken für den opfermütigen Einsatz, den ihr zum Werk, das wir in Angriff genommen haben, beigebracht habt.

Was die Lehrer betrifft, so gibt es eine Methode, die wir bei unserem Unterricht beachten sollen. Ich beschwöre euch: seid in Wahrheit und durch und durch Lehrer. Wie ist das doch schön, wenn ihr eure Schüler und eure Unterrichtsweise zu einer Herzenssache macht, denn dann ist alles gerettet: euer Herz, eure Schüler, und euer Unterricht. Liebt ein bisschen die Seelen eurer Schüler und interessiert euch für sie. Dann ist, wie gesagt, alles in Ordnung. Es fällt doch nicht schwer, ihnen von Zeit zu Zeit etwas Interesse zu beweisen und etwas Liebe hineinzulegen in die Dinge, die ihr vollbringt, in die Personen, die ihr erzieht.

Betrachtet einen echten Lehrer. Er hat sein ihm eigenes Naturell, ist ungemein interessant in der Klasse, voller Frische und Wärme. Er erreicht etwas bei seinen Schülern. Es ist sein Lebensinhalt. Dreht er sich nur um sich selbst, dann wirkt er kalt, leblos und verschlossen. Das fühlen die Schüler und hängen an ihm oder lehnen ihn ab. Gewiss werden einige abspringen, die Mehrzahl aber versteht seinen Einsatz und profitiert davon. Er hält sich treu ans Lehrprogramm und die Weisungen des Studienpräfekten, und darin liegt seine Stärke.

Als ich Kleinen Seminar war, hatte ich von der Sexta bis zur Tertia den Priester Josse als Lehrer. Vor ihm war dort war ein anderer Lehrer gewesen, über den man spottete, weil er im Unterricht unaufhörlich redete, und das ziemlich ungeschickt. Herrn Josse traf ich in Meaux wieder, wo er Generalvikar war, einige Zeit vor seinem Tod. „Sie glauben vielleicht, ich hätte Sie vergessen“, sagte zu mir. Er öffnete seinen Schreibtisch und zeigte mir zwei Aufsätze, die ich gemacht hatte, einen in der Quarta und in der Tertia. „Sehen Sie“, sagte er, „ich habe Sie hier in Reichweite aufbewahrt…“

Herr Josse war ein Lehrer, dem man gern zuhörte und den man schätzte, weil er sein Handwerk verstand und liebte.

Meine Freunde, tut ein bisschen das, was ich euch soeben auseinandergesetzt habe.