14. Ansprache im Noviziat am 02.05.1888.
Meine lieben Kinder, wir sollen nicht nur gute Ordensleute werden, das würde nicht genügen in den gegenwärtigen Umständen, sondern heilige Ordensleute. Ist das schwer, ein heiliger Mönch zu werden? Bei den Oblaten ist es nicht schwer.
Anderswo dagegen wohl: Denn da muss man es durch eigene Anstrengungen schaffen, muss sich einen Abbruch tun an seinem eigenen Willen, seiner Intelligenz, seinen körperlichen und geistigen Kräften, weil es da eine individuelle Angelegenheit bleibt. So stellt man sich im Allgemeinen auch die Heiligkeit vor, und das mit Recht. Denn die Heiligkeit ist im Allgemeinen das Resultat von Tugenden, Anstrengungen, von Heldentum des einzelnen Menschen. Wieviele Menschen werden euch sagen: Heilig werden ist eine höchst schwierige Sache… Haben sie unrecht damit? Nein. Wie komme ich denn heute dazu, euch zu sagen, es sei gar nicht so schwer, und ihr müsst heilig werden, und ich wiederhole es, es ist bei uns wirklich nicht schwer.
Was muss man denn bei uns tun, um es zu werden? Man muss einfach einem bestimmten Büchlein und seinen Oberen gehorchen. Einem Büchlein, das ihr in Händen habt, und einem Oberen, der für euch verantwortlich ist. Das Büchlein heißt Direktorium, und der Obere ist euer Novizenmeister. Und mit diesen beiden Hilfsquellen, diesen Stützpunkten, diesen beiden Kräften gelangt ihr zur Heiligkeit.
Das Direktorium kürzt die Sache ab: Ihr esst da am Tisch des himmlischen Vaters eine zubereitete Nahrung. Unser Herr gebraucht im Evangelium einen köstlichen Vergleich: „Jerusalem, Jerusalem“, sagte er da, „wie oft wollte ich deine Kinder um mich scharen wie eine Henne ihre Küchlein unter ihren Flügeln sammelt. Du aber hast nicht gewollt…“ Was tut die Henne für ihre Küchlein? Die Küchlein sind ja so klein, und will die Henne ihnen zu essen geben, dann zerkleinert sie die Nahrung in ganz feine Teilchen, damit ihr kleiner Schlund sie verschlingen und verdauen kann. Haben sie keine Mutter mehr, und ihr gebt ihnen gutes, aber zu grobes Korn, so werden sie sagen: Das Leben ist doch schwer, und wir werden sterben vor Hunger. Mit ihrer Mutter zusammen leben, wachsen und gedeihen sie ohne Schwierigkeit.
Nun, meine Kinder, die Lehre des hl. Franz v. Sales ist auch eine zubereitete Speise, für uns bereits mundgerecht gemacht. Die hl. Kirche betet im Kirchengebet des hl. Franz v. Sales, er habe den Seelen einen „einfachen und leichten Weg“ eröffnet. Das sei ein ebener Weg, den jeder gehen kann, es sei denn, man habe keine Beine. Selbst Greise, Kinder, Kranke und Lahme, die auf keinen Berg steigen könnten, vermögen diesem ebenen Pfad zu folgen, der allen offensteht. Es ist der Weg einer leicht gangbaren Heiligkeit, die Nahrung, die allen mundet. Ein sicheres Heiligungsmittel, das keine besonderen Schwierigkeiten bietet. Ich behaupte nicht zu viel. Haltet nur euer Büchlein von morgens bis abends in der Hand. Ihr werdet nicht so müde werden als wenn ihr einen anderen Weg gehen würdet, wo euch Abtötungen, Demütigungen, Fasten, auf dem harten Boden Schlafen und andere gewaltige Bußübungen erwarten… Dieser Weg dagegen ist gut und er zeitigt glückliche Resultate bei den Seelen, die auf ihn gerufen sind. Denn diese müssen auf ihm vorangehen. Auf dem Feld des Familienvaters kann es aber nicht nur einen einzigen Weg geben. Unser Vorgehen kennt keine Unsicherheit, ob wir etwa der Liebe oder des Hasses Gottes würdig sind. Wir brauchen uns nicht die Frage zu stellen: Stehe ich auf dem rechten Platz meiner Berufung? …
Ihr habt euer kleines Buch: „Tu das und du wirst leben!“ Richtet ihr euch nach diesem Büchlein, dann tut ihr immer das, was Gott am wohlgefälligsten ist. Welch schönes Lob: Jederzeit den Willen Gottes tun! Folgt also immer seinen Anweisungen, dann wird der Tag, wo Gott euch etwas Besonderes und Schwieriges abverlangt, für euch wie der 13. Artikel eures Direktoriums sein, wie sein letztes Kapitel, das euch nicht größere Schwierigkeiten bereitet als die anderen. Habt ihr doch die feste Gewohnheit erworben, immer treu zu sein, so dass die größten Opfer euch nicht schwerer fallen als die kleinsten.
Fügt zu diesem Büchlein gleichzeitig den Gehorsam gegenüber eurem Novizenmeister und all jenen, die irgendein Amt oder einen Auftrag auszuüben haben. Fällt euch dieser Gehorsam schwer? Nein, er tötet uns nicht sehr ab. Niemand sucht euch zu demütigen und zu verletzen, oder bis auf den Grund eures Charakters zu gehen, um eure Natur mathematisch genau zu erörtern, nein.
Gewiss möchte man bis zur Wurzel eures Wollens vordringen, aber mit sanften und einfachen Mitteln, ohne etwas zu vergewaltigen oder übers Knie zu brechen. Begreift also wohl euer Glück! Geschieht das aber nicht auch den Priesterseminaristen? Nein, das ist nicht dasselbe. Gewiss steht man dort des Morgens zur selben Stunde auf, isst das Gleiche zum Frühstück und kleidet sich wie ihr. Was aber dort niemand tut, ist eben das Direktorium zu erfüllen, dieser geistigen Gymnastik, dieser Treue eines jeden Augenblicks sich zu unterziehen, den ebenen und sicheren Weg zu gehen. Das wäre dasselbe als würdet ihr behaupten, alle Familien gleichen sich, weil man in allen Brot, Kartoffel und Fleischt isst. All das wird doch nicht auf dieselbe Weise zubereitet, bei den Armen, denen es an den nötigen Mitteln fehlt, wie bei den Reichen… Was ihr hier zu tun habt, stellt etwas Komplettes, Vollendetes und dabei doch so Leichtes dar.
Nehmt das Leben der Guten Mutter. Was stellt das schon äußerlich vor? Nichts. Und doch war es ein ungemein heiliges Leben. Warum das? Weil sie sich treu erwies im Gehorsam. Das machte sie zu einer Wundertäterin. Und das mit Hilfe so unscheinbaren Mittel? Jawohl, denn diese Mittel werden zu etwas Großem, wenn man nicht bloß im Vorbeigehen so einen Akt setzt und man sich einmal gewaltsam ins Zeug wirft, sondern wenn man es zu einer ununterbrochenen Verhaltensweise macht. Das ist wie wenn ihr euch einen Fluss aufwärts durchkämpft und nur einen Augenblick nachlasst, denn dann seid ihr verloren. Diese Treue erstreckt sich also auf euer Direktorium und auf die Anordnungen eures Novizenmeisters. Wie weit dehnt sich dieser Gehorsam aus? Das will ich euch ein andermal ausführen. Das regelt einmal unser Gebräuchebuch. Wir wollen ja ein Gebräuchebüchlein zusammenstellen, das uns im Einzelnen sagt, wie wir uns kleiden, wie wir essen, uns halten, sprechen, uns im äußeren Handeln geben sollen, in unseren Beziehungen zum Nächsten, zu unseren Freunden und Feinden, mit jedermann uns verhalten sollen.
Seid einfach und gütig, aber immer stark und großmütig! Dann bleibt ihr auch im Angesicht der Gefahren und Opfer tapfer. Denn diese werden euch nicht erspart bleiben. Wenn ihr euch beständig in den Willen Gottes hineinbegebt, wird eure Seele sehr stark werden. Habt ihr eure Seele aber darin gestählt und ihr lasst sie dann wieder aufweichen, so wird sie zu Boden fallen und zerbrechen. Das wäre dann jene Tugend, die man mit einer einzigen Kraftanstrengung, durch einen bloßen Phantasieakt erwirbt. Stählt man sie aber nicht durch einen einzigen Gewaltakt, sondern auf eine langwährende und beständige Art und Weise, und ihr werft sie dann zur Erde, wird sie nicht zerbrechen.
So macht es der großmütige Mensch, der einen von Natur furchtsamen und schüchternen Willen hat und dem es scheinbar an Beständigkeit gebricht. Diese Weise macht ihn stark, wie unser hl. Stifte lehrt, stark wie der Hölle Eifer, sodass nichts ihn brechen kann. Arbeiten wir in diesem Sinn! Nur stark erscheinen wollen, großherzig und unbeirrbar vor den Menschen, das taugt nichts. Der Mensch darf bei uns in keiner Weise in Erwägung gezogen werden.
Der hl. Paulus sagt: Kümmert euch nicht um das Urteil von Menschen, zeigt euch unverwundbar jeder Bosheit, Verleumdung, Missgunst und Hass gegenüber. Lebt ihr in Vereinigung mit Gott, dann kann euch nichts aufregen noch entmutigen. Pflegt darum eine große Treue, eine ehrfürchtige, gewissenhafte Treue, der alles Steife fehlt, die sich immer gleich bleibt und sich in jeder Hinsicht bewährt.
Ich schließe, meine Kinder, indem ich euch zurufe, dass ihr immer nach Heiligkeit streben sollt. Diese Heiligkeit ist leicht dank unseres Direktoriums und des Gehorsams gegenüber unseren Oberen. Sie, die durch große Treue zum Direktorium erworben wird, verschafft direkt und umfassend Heiligung, was auch der Gehorsam bewirkt. Nichts weiter ist also dazu erforderlich als das kleine Mittel, eine beständige und kraftvolle Ausdauer. Sie gleicht somit nicht dem Stahl, den man schnell und mit mächtigen Schlägen stählen wollte und der beim ersten Schlag in Stücke geht. Ihr dagegen sollt euch großmütig der Übung des Direktoriums, dem Gehorsam und dem Willen Gottes hingeben. „Fiat, fiat!“ Der liebe Gott ist dann zufrieden mit euch und ihr habt das Paradies schon auf Erden. Im Himmel besteht dies Paradies ja im Willen Gottes. Es gibt aber nicht zwei verschiedene Paradiese, sondern nur das Eine: den Willen Gottes. Amen.
