03. Ansprache ans Noviziat am 28.12.1883 in der Kapelle des Kleinen Kollegs.
Das Gewissen des Ordensmannes
Unser Hl. Vater sagte mir vergangenes Jahr: Die Kirche braucht Ordensleute, die sich hingeben „bis zum Vergießen ihres Blutes“. Ihr, meine lieben Novizen, sollt diese opfermütigen Ordensleute werden, die sich hinopfern bis zum Vergießen ihres Blutes. Und dieses Opfer, dieses Blutvergießen, das man von euch verlangt, ist die Gewissenhaftigkeit eines Ordensmannes. Wisst ihr, was das ist, das klösterliche Gewissen? Nicht vier von euch wissen es. Wie solltet ihr auch? Ich mache euch keinen Vorwurf daraus.
Zuerst gibt es das christliche Gewissen, das alle Gläubigen besitzen: Es heißt uns den Dekalog beobachten sowie die Vorschriften der Kirche (die 10 Gebote Gottes und die 5 Gebote der Kirche). Sodann soll unser Lebenswandel in Übereinstimmung stehen mit dem christlichen Glauben. Und das nennt man das christliche Gewissen.
An zweiter Stelle folgt das priesterliche Gewissen: Die Gesamtheit der priesterlichen Pflichten. Er soll Gott den Seelen vermitteln. Dazu braucht er eine viel größere Vollkommenheit und Reinheit des Gewissens als die einfachen Gläubigen. Als ich noch im Priesterseminar war, sagte mir eines Tages ein guter Pfarrer: Was uns Priester zugrunde richtet, ist die Notwendigkeit, immer im Stand der Gnade zu sein.
Dieser Ausdruck hatte den Gedanken dieses braven Mannes nicht richtig wiedergegeben. Das wollte er nämlich nicht sagen.
Er wollte ganz einfach sagen, dass ein Priester eine viel größere Heiligkeit haben muss als ein einfacher Gläubiger.
Geht aber die Gewissenhaftigkeit des Ordensmannes nicht noch viel weiter? Wenn ihr das Gebot Gottes beobachtet und eine gewisse Vollkommenheit erreicht habt, dürft ihr euch dann zufrieden geben? Wenn ihr dabei eure Regeln, euer Direktorium und das Stillschweigen verletzt? … Aber was ist das schon, ein kleines Wort? Das ist eine sehr ernstzunehmende Sache! Dann seid ihr eben keine Ordensleute, dann verletzt ihr die klösterliche Gewissenhaftigkeit! Und in gewissem Sinn ist das ebenso schwerwiegend, wie die Gewissenhaftigkeit des Priesters oder gar des Christen zu verletzen. Versteht mich wohl, ich will nicht behaupten, dass ein Verstoß gegen das Direktorium, die hl. Regel oder das Stillschweigen einer Verletzung eines Dekalogs also einer Todsünde, gleichkommt, so schwer als ein Arzt schwer sündigen würde, wenn er durch Nachlässigkeit einen Kranken sterben ließe oder ein Priester sündigen würde, der die Sakramente nicht spenden wollte. Nein, in sich genommen ist der Schweregrad der Sünde verschieden. Gleicht sich aber letztlich nicht doch das Resultat? Ihr vernichtet das Gewissen des Ordensmannes durch euren Ungehorsam wie der Christ es tut durch seine schwere Sünde oder der Priester durch seine Nachlässigkeit. Ihr seid kein Ordensmann mehr. Was seid ihr dann?
Das heißt es wohl begreifen, die Wichtigkeit dieser kleinen Dinge, die die klösterliche Zucht ausmachen. Aber, aber, Herr Pater, was ist das denn schon, ein Wort? Kann das denn solch ein Gewicht haben? Jawohl, ein Wort hat ein enormes Gewicht. Sagt solch ein Wort oft, dann habt ihr, um es nochmal zu sagen, euer Gewissen als Ordensmann vernichtet.
Überlegt einmal, warum die Heiligen, warum die Gute Mutter Maria Salesia solch eine hohe Achtung den kleinsten Vorschriften der Regel entgegenbrachten. Lest das Leben der Wüstenväter, das Leben der hl. Ordensleute. Ihr kennt die Geschichte, der in der Küche mit einer Nadel zwei Linsenkörner aus den Fugen eines Fußbodens auflas. Was soll das schon, zwei Linsenkörner mit einer Nadel auflesen? Das ist doch nichts. Der gleiche Ordensmann erweckte aber Tote zum Leben! Ist das etwa auch nichts, Tote erwecken? Und er erweckte sie, weil er die zwei Linsenkörnchen mit einer Nadel aufgelesen hatte, weil er gehorsam war und die Gewissenhaftigkeit eines Ordensmannes hatte.
Nehmt darum auch die kleinsten Vorschriften der klösterlichen Disziplin ernst. Darin liegt alles. Der kleine Rossini suchte einen großen Musiker auf und bat: Bringen Sie mir die Musik bei, ich möchte ein großer Künstler werden. Zeichne Notenlinien auf dieses Notenpapier und schreibe die sieben Noten der Tonleiter darauf. Und jetzt nimm diese Tonleiter mit fort und wenn Du sie auswendig kennst und alle Harmonien und die Unterschiede jeder ihrer Bedeutungen studiert hast, wirst Du ein großer Musiker sein.
So liegt auch hier alles in den kleinen Übungen des Direktoriums beschlossen.
