Exerzitienvorträge 1897 (August)

      

2. Vortrag: Die Nächstenliebe.

Meine Freunde, fassen wir den Vorsatz, unsere Exerzitien gut zu machen: „Sustinite Dominum.“ (Anm.: „Haltet den Herrn aus.“). Halten wir also die Last unseres Herrn aus, seine Hand und seinen Willen! Die Anstrengungen der Übungen dieser hl. Tage, die Umstellung der Lebensweise, der Nahrung, des Bettes, all das ermüdet uns und lässt uns leiden. Dazu gesellen sich die Trockenheiten der Seele, der Widerwille. Dann dankt man ja auch an das vergangene Leben und die verflossenen Jahre zurück, die uns nicht gerade Grund zum Trost sind. Ein bisschen hält Gott während der Exerzitien auch Gericht über uns, die Atmosphäre ist schwerer, bedrückender, die Umstände mühseliger und bitterer. Versteht da wohl, dass Exerzitien eine gewisse Ähnlichkeit mit Sakramentalien aufweisen. Jeder hat seine Mühsale und Prüfungen, aber auch seine Verdienste: „Aeternum gloriae pondus.“ (Anm.: „Bürde ewiger Herrlichkeit“). All das zieht uns nämlich Gnade und Herrlichkeit zu.

Die Gute Mutter hat dies auf eine vollkommene Weise gehandhabt: Jeder ihrer Exerzitientage wurde ihr eine Quelle von Verdiensten. Und doch waren sie weit entfernt, ihrer Natur angenehm zu sein… Gerade darin liegt aber Heiligkeit! Heiligen wir uns in den Exerzitien! Gewiss brauchen wir in-mitten all dieser Schwierigkeiten der Einkehrtage hin und wieder eine Entspannung, und die finden wir in der Lektüre der Hl. Schrift, besonders des Evangeliums, der Briefe des hl. Paulus, der Apostelgeschichte. Auch das Alte Testament kann euch helfen: Lest Hiob als ein Buch der Erholung, wenn ihr nicht mehr könnt, als eine geistliche Rekreation… Ihr wisst sehr wohl, was die Hl. Schrift beinhaltet, was man da findet an Angenehmen, an geistlicher Salbung und an Lichtvollem. Es ist wie eine Erscheinung des Hl. Geistes, des Retters unserer Seele. Gott spricht da zu unserer Seele: „Consolamini invicem in verbis istis.“ (Anm.: „Tröstet einander mit diesen Worten.“). Lesen wir auch in anderen Büchern, z.B. denen unseres hl. Stifters. Machen wir unsere Gewissenserforschung, stellen wir unsere Fehler vor. Gehen wir auch die Gnaden Gottes durch während des vergangenen Jahres. Überlegen wir, was er uns geschenkt, die Sünden, vor denen er uns bewahrt, die Krankheiten, von denen er uns geheilt hat. Erinnern wir uns der kleinen Augenblicke, der gesegneten Stunden, die wir ganz nahe bei ihm vor dem Tabernakel verbringen durften, bei unseren Danksagungen, bei Betrachtungen, bei unseren Lichtstunden. Die Erinnerung an empfangene Gnaden ist ein ausgezeichnetes Mittel, die Bitterkeiten der Exerzitien zu mildern. Seid in Punkto Dankbarkeit Gott gegenüber feinfühlig. Erinnert eure Seele an die Augenblicke, wo sie die göttliche Berührung gespürt hat: „Redite ad cor.“ (Anm.: „Kehrt in euer Herz ein.“). Gewährt all diesen Erinnerungen einen kleinen Platz in eurem Herzen, ein Plätzchen, in dem ihr öfters während der Einkehrtage absteigt und wo ihr gern verweilt.

So findet ihr sicher genug, womit ihr euch beschäftigen könnt. Einkehrtage sind Schweigen und Ausruhen bei Gott. Ihr braucht euer Brevier nicht in Gemeinschaft zu beten, auch werdet ihr nicht vielen ermüdenden Übungen belastet… Lehrt auch die Menschen, die ihr leitet, so ihre Exerzitien vorzunehmen, all jene, die euch um Rat fragen. Merkt euch gut diese Regel: Exerzitien sind eine Angelegenheit zwischen Gott und der Seele. Hat man während einiger Zeit einen Freund zu seiner Verfügung, einen ergebenen Berater, den man dringend braucht, dann nimmt man keine Zeitung oder ein literarisches Buch zur Hand, um damit die Zeit zu füllen, die man mit ihm zu verbringen übrig hat. Ich wiederhole: Wir haben mehr als genug Dinge zu besprechen, und auch Verdienste zu sammeln mit dem, was man zu leiden hat, mit dem, was Gott uns gibt, mit den gewöhnlichen Übungen der Exerzitien. Legt, wie ich euch gestern schon ans Herz gelegt habe, eine gute und heilige Beichte ab. Möge das Blut des Erlösers auf eure Seele fließen. Bringt ihm allen Glauben entgegen, dessen ihr fähig seid, als Christ, und als Ordensmann.

Wir Oblaten des hl. Franz v. Sales haben vier große Verpflichtungen: Die drei Gelübde und als viertes, gebieterischer als die anderen drei, die Liebe zum Nächsten. Ich sage euch oft das gleiche, aber es muss sein. Ich hatte am Anfang viel Schwierigkeiten mit den Oblatinnen, Frauenköpfe sind nicht einfach, die eine will dies, die andere das… Es ist nun schon lange her, dass eine von ihnen eines Tages meinte, sie verdiene es, wenn schon nicht auf den ersten Platz, so doch auf einen wichtigen Posten gesetzt zu werden. Eine andere verurteilte die Handlungen der Oberin, sie war nicht intelligent und hatte einen unangenehmen Charakter… Wieder eine andere, zehn andere, zwanzig andere hatten immer etwas zu mäkeln, so wie das ein bisschen bei uns heutzutage der Fall ist. Das höre ich von allen Seiten. Das ist eine Wunde, eine blutende Wunde… Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie hässlich, ja tödlich diese Wunde ist, denn sie lässt die Seele dahinsterben.
„Caritas Dei non est intra vos.“ (Anm.: „Die Liebe Gottes herrscht unter euch nicht.“). Eine tiefe Wunde, die von einem Fundament aus Leichtsinn, Kolleggeist, und Seminaristengehaben, und zwar eines schlechten Seminaristen, herrührt. Im Priesterseminar währt dies drei, vier oder fünf Jahre. Dann geht man hinaus in die Einsamkeit einer Pfarrei und man kann nicht mehr so viel Schlechtes über seinen Nächsten sagen. Die so handeln, begehen sicher keine schwere Sünde, wenn es nur aus Oberflächlichkeit geschieht und nicht aus einer niederen und schuldhaften Gesinnung… Man will ja nur einen Scherz, einen Geistesblitz loslassen über den und jenen, weil es Spaß macht. Natürlich gewinnt die Liebe nichts dabei, im Gegenteil. Es ist und bleibt ein Jammer. Hört, was der hl. Bernard sagt: „Nugae in ore saecularis nugae, in orae sacerdotis blasphemiae.“ (Anm.: „Dummes Zeug ist im Mund eines Weltmenschen dummes Zeug. Im Mund eines Priesters aber ist es Blasphemie.“).

Man gibt bei uns noch nicht genügend darauf Acht. Es kommt, dass einige das Ordensleben noch nicht verstanden haben. Dabei hat es an Aufklärungen und Empfehlungen im Noviziat nicht gefehlt, und seitdem in jedem Augenblick all die Ermahnungen der Oberen…

Was die Obrigkeit betrifft: Von mir und über mich könnt ihr sagen, was immer ihr wollt, ich werde mich nicht im Geringsten aufregen. Ich bin nicht aufgeblasen, ich bin alt, und höre nicht mehr auf das Gerede der Menschen, ja, ich höre es nicht einmal mehr, weil ich ein bisschen taub bin, körperlich wie geistig. Was also mich betrifft, verlange ich nichts. Nach mir aber bitte ich inständig, dass die Vorschriften der hl. Regel, Gehorsam und Ehrfurcht dem Generaloberen und allen anderen Oberen gegenüber treu beobachtet werden. Die Gute Mutter war sehr nachsichtig. Handelte es sich aber um Ehrfurchtslosigkeit den Oberinnen gegenüber, konnte sie sehr streng sein. Sie sagte, der Gehorsam sei die erste Tugend der Heimsuchungsschwestern, ihre höchste Pflicht. Der Gehorsam stelle sich aber der in der Person der Oberin, in Form der Hochachtung, die man ihr entgegenbringt. Sie hat darauf einen strengen, unveräußerlichen und beständigen Anspruch. Die Gute Mutter war in diesem Punkte wie gesagt von äußerster Strenge.

Das soll in Zukunft jeder wohl verstehen und es in seine Gewissenserforschung und in seine guten Vorsätze hineinnehmen. Der Generalobere hat volles Recht und alle Freiheit, alles zu tun, um die hl. Regel beobachten zu lassen. Der gewöhnliche Obere ist nicht berechtigt zu glauben, er sei klüger als die anderen, das wäre Stolz und oft ein offenkundiger Irrtum. Was aber sicher ist: Gott und die hl. Kirche haben ihn in sein Amt eingesetzt, sie vertritt er und er ist im Gewissen verpflichtet, seinen Platz zu bewahren.

Liebe und Ehrfurcht gebühren dem Generaloberen und jedem anderen Vorgesetzten. Das gebietet auch die hl. Regel und ich bestehe auf diesem Punkt auch wegen des großen Gebotes der Nächstenliebe, das niemanden ausnimmt. Wir bilden aus Oblatenreligiosen eine Ordensgemeinschaft. Eine große Seele schwebt über uns, eine hl. Seele, die Gott sich als freiwilliges Opfer von erlesenem Wohlgeruch auserwählt hat, nämlich die Gute Mutter. Gleicht das nicht stark den ersten Tagen der Kirche im Abendmahlsaal? Zwölf Männer waren da ebenfalls um eine ältere Frau geschart, ein reines und gottwohlgefälliges Opferlamm. Fischer waren sie überwiegend, einige etwas gebildeter, es gab unter ihnen einen Geschäftsmann… „Non multi potentes, non multi nobiles.“ (Anm.: „Es gab nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme.“). Das war die ganze Kirche. Ohne uns mit den Aposteln zu vergleichen zu wollen, können wir dennoch sagen, dass auch uns eine große Zukunft in der Welt beschieden ist. Werden aber Petrus, Jakobus, Johannes, die klügsten unter ihnen, der Steuereinnehmer Matthäus, das Werk Gottes in der Welt vollbringen? Ist es überhaupt der oder jener? Nein, sondern die ganze Kirche tut es, d.h. die Vereinigung aller Herzen und Willen. Sie alle vollbringen ihren Teil vom Werk und sie tun es „unanimiter consentientes“ (Anm. „Alle in Übereinstimmung miteinander.“), „cor unum, anima una“ (Anm.: „Ein Herz und eine Seele.“). So müssen auch wir, meine Freunde, ein Herz und eine Seele bilden. „Cor unum“, wenn wir uns gegenseitig lieben und in dieser Liebe unsere Willenskräfte zusammenklingen lassen. Und warum sollten wir uns nicht lieben? Haben wir nicht alle unsere Qualitäten und ernsten Beweggründe zur Liebe unserer Mitbrüder? … Ich bin alt, meine Freunde, ich habe sehr viele Gemeinschaften von Männern kennengelernt. In allen Gemeinschaften habe ich nie einen bestimmten vorgezogen, sondern bemühte mich, alles hochzuschätzen, was ich da vor meinen Augen hatte. Und ich schätze in Wahrheit die Gemeinschaft, die ich jetzt vor mir habe. Tue ich das vielleicht, weil ich „multi potentes, multi nobiles“ (Anm.: „Viele mächtige, viele Vornehme“) sehe? Gott hat bei eurer Wahl in das Herz eines jeden von euch etwas Besonderes, etwas Gutes und Heiliges gelegt, etwas Liebenswürdiges, etwas, was er nicht unterschiedslos in die Herzen gelegt hat. Er hat euch allen den Oblatenberuf geschenkt mitsamt seinen Tugenden. Diese sind wenigstens keimhaft in euren Herzen, und ich sehe deren Gegenwart sich offenbaren…

Habe ich euch eben Vorwürfe gemacht? Jetzt spreche ich euch Lob aus, oder besser gesagt, ich muss es Gott aussprechen, der der Urheber alles Guten ist.

Wenn ich Gott frage, was ich mit euch anfangen soll, dann gibt er mir zur Antwort: „Jeder von euch hat alles Nötige, um eine Einheit mit mir zu bilden, um die anderen zu lieben und mit ihnen ein Herz und eine Seele zu sein.“

Liebt den und den Pater, weil er die und die Tugend, den und den Vorzug an sich hat, weil dies und das bei ihm der Fall ist, liebt ihn, weil er intelligent, fromm, gütig, gerecht, erfahren ist… Liebt ihn auch, weil er die und die Qualität nicht hat und darum euch umso mehr braucht! Hegt man denn in einer Familie für einen kleinen Bruder, der blind oder lahm ist, nicht auch ein bisschen mehr Zärtlichkeit im Herzen? Die moralischen Schwächen haben meist nicht mehr im Herzen ihren Sitz als die körperlichen Beschwerden… Wir wollen einander also ohne Ausnahme und mit aufrichtiger Liebe zugetan sein. Gott hat ja ins Herz eines Jeden alles Nötige gelegt.

Ich möchte also nicht mehr hören: Der hat dies gesagt und der hat das gesagt. Kinder, die miteinander streiten, bleiben immer Brüder – und lieben einander trotz allem. Wir aber sind mehr: Männer und Ordensleute, blutsverwandt an Herz und Seele. Es gibt ein Herz, das uns alle zusammenhält, das Herz des Erlösers. Zu ihm müssen wir gehen, um das Geheimnis der Liebe zum Mitbruder zu lernen. Macht es zu eurem Aufenthaltsraum. Lasst euch beeindrucken von dem, was darin geschieht, in diesem Herzen Gottes, oder soll eure schlechte Natur das letzte Wort behalten?

Seid entschlossen, die kleinsten Verstöße gegen die Nächstenliebe zu beichten. Das sollte der Hauptgegenstand eurer Beichten werden, bis ihr davon frei seid.

Der hl. Stifter wollte seine Gemeinschaft einzig auf das Gelübde der Liebe gründen. Ich weiß nicht, ob sich das eines Tages verwirklicht. Erfüllt euch aber wenigstens mit der Überzeugung, dass man sich damit in jeder Minute heiligen kann. Zieht Nutzen aus den Charakterfehlern, den Rohheiten und Schwierigkeiten, denen ihr begegnet in dem und dem Mitbruder, in dem und dem Nebenmenschen, um euch zu heiligen. Der hl. Stifter sagte eines Tages zu Schwestern, die er besuchen wollte, und ihm die Türe vor der Nase zugeschlagen hatten: „Danke, meine Töchter, ihr habt mir eine große Gunst erwiesen, die der Demut. Und ihr beweist mir, dass euer Kloster eins der regeltreusten der hl. Kirche ist, weil ihr so streng die Klausur bewahrt!

Ihr gelangt zur Gewohnheit der Liebe, wenn ihr sie bei jeder Begegnung übt. „Cor unum, anima una.“ (Anm.: „Ein Herz, eine Seele!“): Sind die Herzen eins, dann haben auch die Geister bald die gleichen Gesinnungen. Wenn wir uns wirklich lieben, und unsere Ansichten weichen voneinander ab, so werden wir uns nicht lange streiten… Was den Verstand betrifft, so kann jeder viele Verdienste erwerben, wenn er tausend kleine Einfälle von minderer Bedeutung zum Opfer bringt… Während der 35 Jahre, die ich zurzeit der Guten Mutter in der Heimsuchung von Troyes zubrachte, habe ich in der dortigen Gemeinde nie etwas anderes erlebt als „cor unum et anima una“.

Gewiss gab es manchmal zwei oder drei vorübergehende Ausnahmen. In jeder Männer- oder Frauengemeinschaft gibt es einen oder zwei, die nicht wie die anderen sind. Gott lässt dies zur Heiligung der anderen zu. Um das Jahr 1830 gab es in der Kathedrale von Troyes einen Kaplan, ein kleines, buckeliges Männchen, der mitten im liturgischen Gesang mehr oder weniger falsch sang. Er war überzeugt, dass er mit einem oft so schlecht ausgeglichenen Kontra-Punkt den Gesang verschönerte. So gibt es leicht in jeder Kommunität einen Buckeligen, der Kontra-Punkt machen will. Lassen wir ihn liebevoll gewähren.

In der Heimsuchung erlebte ich, wie gesagt, 35 Jahre lang dies „cor unum et anima una.“ Der göttliche Einfluss auf die Gute Mutter fand keine Unterbrechung. Aber es war nicht bloß sie, die in intimen Verkehr mit Gott stand, sondern 40 bis 50 Schwestern, die ich mit Namen nennen könnte. Gott offenbarte sich in diesen Seelen auf eine bewundernswerte Weise, wovon ich Zeuge war. Durch Erleuchtungen über die höchsten Höhen der Gotteswissenschaft. Gott war da, weil die Nächstenliebe in so vollkommener Weise geübt wurde. Wenn zwei oder drei „de quacumque re“ (Anm.: „in irgendeiner Sache“) übereinstimmen, „fiet illis“, so wird es ihnen gewährt. Aus diesem Grund sagte ich mitunter zur Guten Mutter: „Wir leben hier im Himmel. Es lohnt sich gar nicht, in den Himmel zu kommen, weil Gott hier ebenso wohnt wie droben im Himmel.“ – „Das darf man nicht sagen“, antwortete sie mir. – „Aber ist es denn nicht wahr, meine Gute Mutter?“ – „So soll man aber nicht sprechen, man könnte Ärgernis erregen.“

Einer meiner Freunde ist soeben verstorben. Jedes Mal, wenn er die Stufen zum Altar hinauf schritt, sagte er zu Gott: „Lass mich noch nicht sterben, denn im Himmel hab‘ ich nicht mehr das Glück, die hl. Messe zu feiern…“