Exerzitienvorträge 1896 (September)

      

2. Vortrag: Das Oblatenleben – Die Betrachtung.

Machen wir uns Mut während dieser Einkehrtage, in den verbleibenden Tagen in der Treue und Abtötung zu verharren. Was die Festigkeit eines Hauses bestimmt, ist das Fundament. Die Exerzitien sind aber die Grundlage des Gebäudes, in dem wir das ganze Jahr über leben sollen… Gott ist getreu, und er liebt die treuen Diener: „Fidelis servus.“ (Anm.: „Getreuer Knecht.“). Gerade diese Treue bestimmt Gott, das höchste Glück zu geben: „Euge serve bone et fidelis, quia fuisti fidelis… intra in gaudium Domini tui.“ (Anm.: „Wohlan, du guter und getreuer Knecht, weil du treu warst… Geh ein in die Freude deines Herrn.“). Meine Freunde, die Natur meiner Vorträge mus in euren Gedanken einen Einwand provozieren: Aber, Herr Pater, was Sie da von uns verlangen, ist unnatürlich. Der Mensch ist nicht so gestaltet. Was ich in mir trage, die Art meines Geistes, meine natürlichen körperlichen Neigungen, die Umgebung, in der ich lebe, die Menschen, die ich jeden Tag sehe, all das disponiert mich in keiner Weise, eine Lebensweise zu führen, wie Sie es mir raten. „Nil humani a  ma alienum puto.“ (Anm.: „Ich glaube, dass mir nichts Menschliches fremd ist.“). Ich spüre in mir dieselben Kämpfe und Leidenschaften, die ich in den anderen Menschen feststelle. Wie wollen Sie da, dass ich ein Leben führe, losgeschält von den Sinnen und von allem, was mich umgibt, ein Leben, das meinem ganzen Wesen so viel Widerwillen einflößt?

Das ist wahr, meine Freunde, diesen Einwand kenne ich so gut wie ihr, vielleicht noch besser, als ihr, weil ich älter bin. Was Sie, Herr Pater, uns da vortragen, fahrt ihr fort, das finden wir im Leben der Guten Mutter Maria Salesia, im Leben des hl. Alfons v. Ligouri, des hl. Vinzenz v. Paul. Das waren aber Heilige, mithin Ausnahmen. Der Erzengel Raphael nahm einmal solch eine Verwandlung vor. Niemand hat ihm das je nachmachen können und wird es wohl auch nie… Wie können Sie da in das gewöhnliche und allgemeine Leben etwas einfügen wollen, was doch ins Gebiet der Heiligkeit gehört, was also zwangsläufig eine Ausnahme ist?

Ihr habt recht, meine Freunde, mir diesen Einwand vorzubringen. Nur darf man daraus nicht all die Folgerungen ziehen, wie ihr es tut. Man darf nicht sagen: Ich will die großen Linien meiner Pflicht erfüllen, das ist aber auch alles. Und ich will hoffen, dass man mich nicht verdammen wird, da mein Leben letztlich kein Sündenleben war.

Was ihr da vortragt, ist wie gesagt, richtig. Von Natur aus sind wir nicht zu allen Übungen des Verzichts befähigt, wir haben dazu enorme Schwierigkeiten. Alle Meister des geistlichen Lebens mussten dies zugeben. Schwierigkeiten bereiten uns unser Charakter, die Leidenschaften des Leibes wie der Seele. Unser Verstand ist zum Stolz geneigt, unser Herz so schwach… Und von diesem Fundament sollen wir nun ausgehen, meine Freunde, um darauf unser geistliches Gebäude aufzubauen?

Nun, meine Freunde, unsere inneren Widerstände, Schwächen und Dunkelkeiten des Geistes dürfen uns gleichwohl nicht entmutigen und aufhalten. Was die Unwissenheit betrifft: Die Gute Mutter sagte oft, die Erbsünde habe in uns mehr den Verstand als den Willen geschwächt, wir seien also mehr unwissend als böse. Von eben diesen Schwächen sind die Meister des geistlichen Lebens aber ausgegangen, um sie zu bekämpfen. Der hl. Franz v. Assisi, reich und verschwenderisch, geht von Charakterfehlern aus, um sich für die strikteste Armut zu begeistern. Der hl. Ignatius v. Loyola wandelt den natürlichen Menschen um in den göttlichen mit Hilfe langer Betrachtungen, Abtötungen des Willens, durch ein beständiges Absterben seiner Natur. All diese Mittel haben Heilige hervorgebracht, und nicht wenige.

Der hl. Franz v. Sales, sicher tiefster Denker seiner Zeit, sagte sich, dass all diese Mittel gut, ja sehr gut sind, das beweist ihr Erfolg. Dass aber Jesus Christus, der vollkommene Mensch, das Modell mit Auszeichnung, der Idealmensch, in Gerechtigkeit geschaffen, der „Ecce homo“, nicht ganz und gar so geartet war.

Sein Leben muss aber das vollkommenste Muster und Vorbild unseres Lebens bilden. Nach seiner eigenen Art hat er sein Leben gestaltet. Seine Armut war aber nicht die des hl. Franz v. Assisi. Die hl. Jungfrau und der hl. Josef lebten nicht in der Entblößtheit des Elends… Der hl. Stifter sagte darum: Das Muster, das mir vorschwebt,  ist das des göttlichen Meisters. So versucht er, uns möglichst getreu das Bild des inneren wie des äußeren Lebens Jesu vorzuleben. Und  in dieser Nachahmung liegt für uns der Schatz des klösterlichen Lebens beschlossen. Käme unser Herr noch einmal zur Erde, würde er sicher nicht als Kapuziner erscheinen noch als Jesuit, nehme ich an. Käme er als Oblate? Meint ihr nicht, er fühle sich sehr wohl in dieser Lebensweise? Betrachte ich nämlich sein Leben und das, das wir führen sollen, dann finde ich beide ganz und gar sich gleichend. Das ist also der Mensch nach der Gnade geformt. Der Mensch besteht ja aus Leib und Seele. Die Seele wurde verdorben durch die Erbsünde. Infolge dessen ist der Mensch dem Elend und dem Laster unterworfen. Er fällt in Sünden. Um darin aber nicht zu unterliegen, heißt es kämpfen und Akte des Großmutes vollbringen. Ansonsten fällt der Mensch in den Sumpf zurück, aus dem er gezogen war!

Es steht somit außer Zweifel, dass wir einer Unzahl von Unwissenheiten, Schwächen, Niedrigkeiten und Nichtigkeiten unterworfen sind. Wenn ich diese Sprache führe, bin ich mir bewusst, dass ich zu Menschen spreche und nicht zu Engeln oder Heiligen. Ich wende mich an Menschen, die zur gegenwärtigen Zeit zum Bösen geneigt sind und in den Abgrund stürzen können… Mit diesen Worten will ich euch nicht beleidigen, meine Freunde… So ist jedenfalls der Mensch beschaffen, so habe ich ihn kennengelernt. Sagt also nicht: „Herr Pater, Sie predigen so eine unerfüllbare Lehre…“ Ich nehme euch vielmehr einfach so, wie ihr seid und sage euch, was ihr in dieser Situation tun müsst.

Nach dem Aufstehen und der Sammlung, die der ersten Übung folgt, geht ihr zur Betrachtung. Wie soll ein Oblate betrachten? … Tut es vor allem auf die Weise, die wir die „Vorbereitung auf den Tag“ nennen. Der Kaufmann, der zu seinem Kontor geht, überlegt auch die Verluste und Gewinne, die ihm der neue Tag einbringt.

Habt ihr zu unterrichten, oder Aufsicht zu führen? Einen Besuch zu machen? Eine Schwierigkeit mit dem oder jenem Mitbruder, dem oder jenem Schüler? … Ihr müsst in die Stadt hinaus, was euer Herz oder gar euren Glauben auf die Probe stellt? Seid ihr zurzeit von bösen oder gefährlichen Gedanken belagert, die euch niederdrücken, euch bedrohen oder in Versuchung bringen, Gott zu beleidigen? Erzählt alles das Gott in eurer Betrachtung. Sucht dann nicht lange einen Betrachtungspunkt, einen Lehrpunkt zu erforschen oder zu vertiefen. Sprecht in der Betrachtung mit Gott wie ein Kind mit seinem Vater spricht.

Wie sollen wir diese Vorbereitung auf den Tag vornehmen? Lange? Nein, sondern ganz einfach. Scheut euch nicht, jeden Tag darauf zurückzukommen und mit denselben Einzelheiten euch zu befassen. Kommt der Kaufmann nicht jeden Tag auf dieselbe Abteilung zurück? Gibt er sich nicht immer mit demselben Geld ab, das unablässig in Umlauf kommt?

Soll man einen einfachen, schnellen Blick auf das werfen, was zu tun obliegt? Nein, haltet euch vielmehr auf und verweilt in der Kapelle vor dem heiligsten Sakrament. Würdet ihr in Person vor euch sehen, wäret ihr sicher aufmerksamer. Da ist er aber wirklich zugegen und verdient unsere Aufmerksamkeit. Sicher passiert es euch manchmal, dass ihr es überdrüssig findet, die ganze Zeit auf dasselbe Thema zurückzukommen. Ihr habt Kopfweh von einer schlaflosen Nacht. Dann könnt ihr nur beten: „Oh Gott, ich sehe nichts und kann nichts.“ „Sicut iumentum factus sum ante te.“ (Anm.: „Ich will immer bei dir verharren.“). Bleiben wir immer aufmerksam vor Gott! Eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten, so verbracht, bleiben nicht ohne Frucht.

Ist nach der Betrachtung noch Zeit übrig, dann denkt an das Fest des Tages, wenn euch nichts anderes beansprucht. Ein Festgeheimnis ist immer ein gutes Betrachtungsthema, ob ein Apostel-, ein anderes Heiligenfest, oder ein Fest der allerseligsten Jungfrau Maria. Oder brauchen wir ihre Hilfe nicht? Brauchen wir Maria nicht zum Schutz unseres geistlichen Lebens, dass sie uns ihre Hand reiche und vor einem Fall schütze. Man braucht also nicht weit zu gehen, um im Herzen Gesinnungen der Dankbarkeit und Liebe zu erwecken. Sucht nur immer in eurem Herzen, da findet ihr tausend Erinnerungen vor. Vielleicht trifft gerade der Jahrestag einer schweren Heimsuchung, oder das Jahrgedächtnis eines Vaters oder einer Mutter. Warum nicht mit Gott darüber sprechen? Die Gute Mutter jedenfalls sagte, die Betrachtung sei eine liebevolle Unterhaltung der Seele mit Gott, unserem Herrn, über unsere Angelegenheiten.

Der Priester, der Ordensmann hat in seinem Leben nicht die menschlichen Stützen und Tröstungen, die sich die Weltleute bereiten. Sie haben nicht die intimen Vertraulichkeiten und Mitteilungen des Herzens… Um sich zu trösten und aufrechtzuerhalten haben sie nur den, den sie zu ihrer Liebe und ihrem Erbschaftsanteil erwählt haben…Meine Freunde, haben wir schon Peinen, dann wäre die schwerste Heimsuchung die, dass wir den Weg vergäßen, der zu unserem Tröster führt.

Beten wir mit der Guten Mutter die Worte des Psalmisten: „Vivas tuas demonstra mihi et semitas tuas edoce me.“ (Anm.: „Zeige mir deine Wege und lehre mich deine Pfade.“) Ja, beten wir das, und Gott wahrt uns immer die Treue. Ich habe den Bischof von Chalons, Msgr. de Prilly, gut gekannt. Er hat mich zum Priester geweiht, weil der Bischof von Troyes krank war. Er hatte den Psalm „Beati immaculati in via.“ (Anm.: „Selig, deren Weg ohne Tadel ist.“) sehr gern und hegte für ihn eine unvergleichliche Verehrung. Dieser Psalm wiederholt unaufhörlich die gleichen Worte: „lex, testamentum, mandatum.“ (Anm.: „Gesetz, Vermächtnis, Auftrag.“)… Bischof de Prilly hat darüber eine köstliche Abhandlung geschrieben. Er fand in jedem dieser immer wiederkehrenden Ausdrücke einen Leitfaden heraus, eine Folge von Gedanken, um sich mit Gott zu unterhalten, um zu ihm zu gehen. „Vias tuas demonstra mihi.“ (Anm.: „Zeige mir deine Wege.“).

Wir sind schwach. Aus uns glauben wir nicht, sehen nicht ein und können nichts. Treten wir aber in die Wege des Herrn ein, dann sehen wir, glauben wir und machen innerlich jene übernatürliche Reise. Beten wir also und machen wir uns auf den Weg. Je schwerer das fällt, desto mehr gewinnen wir. Je länger dieses Leben währt, umso mehr Ausbeute sammeln wir. Glaubt nur, und um zu glauben, betet und handelt danach. Indem man entsprechend handelt, glaubt man.