2. Vortrag: Die Gelübde
„Sustinete Dominum.“ (Anm.: „Ertraget den Herrn.“). Ertraget die Aktion Gottes. Haltet die Exerzitien, wie Er sie euch vorbereitet hat. Nehmt sie an wie Er sie gibt.
Ihr habt während der Exerzitien nichts anderes zu tun als dem Gnadenzug Gottes zu folgen. Nicht was ihr aus euch selbst tut, aus eigener Anstrengung oder infolge einer bestimmten Methode, macht die Einkehrtage gut und nützlich. Sondern Gott mit euch! „Venite seorsum in locum desertum.“ (Anm.: „Kommt abseits an einen einsamen Ort.“). Seid darum während dieser hl. Tage darauf bedacht, alles anzunehmen, vollkommen euer Direktorium zu erfüllen, es an nichts fehlen zu lassen von dem, was euch empfohlen wird. Befolgt bis auf ein Fädchen genau, bis auf ein Haar genau die Exerzitienordnung. Stützt euch ganz auf die hl. Regel. Sie möge euch von allen Seiten umgeben, denn nur dann bringt sie ihre Wirkung hervor.
Das lehrt auch jene, denen ihr selbst Exerzitien predigt. Gewiss gehen nicht alle auf demselben Weg. Die Gnaden sind verschieden, sie sind verschieden von Seele von Seele, so wie die Gesichtszüge und der Klang der Stimme verschieden sind. Geister sind nicht gleich. Aber etwas passt für alle: Nämlich die Exerzitien so machen, wie ich es euch hier empfehle: Die Exerzitien mit Hilfe der Exerzitien zu machen, mit Hilfe ihrer einzelnen Übungen, mit all den Einschränkungen und Zwängen, den Überwindungen, den Widersprüchen, den Enttäuschungen, gleichgültig was es sei. Betrachtet all das als etwas Kostbares, als den unmittelbaren Ausdruck des aktuellen Willen Gottes über euch. So werdet ihr ausgezeichnete Exerzitien machen.
Die Exerzitien dauern nämlich das ganze Jahr, ja das ganze Leben. Sie bedeuten nicht, sich 4 bis 5 Tage in Gottes Nähe zu halten, sondern dass Gott bei uns das ganze Jahr hindurch verweilt, so wie während der eigentlichen Exerzitien. Das heißt es wohl begreifen und bejahen. Tut das, meine Freunde, und ihr werdet großen Nutzen daraus ziehen. Als unser Herr auf Erden weilte und predigte, als die Menge ihn umgab, gab er ihr lediglich Brot zu essen, ein einziges Mal etwas Fisch. Nach seiner Auferstehung hingegen gab er ihr nicht nur Brot und Fisch, sondern tat etwas Honig dazu. So ist er… Reicht er euch trockenes Brot? Dann habt ihr wenigstens was zu essen. Fügt er dem Brot etwas hinzu? Eine Honigwabe? So dankt ihm: „Dominus est.“ (Anm.: „Es ist der Herr.“).
Habt also Mut! „Sustinete Dominum…“ (Anm.: „Haltet den Herrn aus…“), ertragt ihn, nehmt alles an, was er euch schickt, denn gerade das macht eure Exerzitien so ausgezeichnet und vollkommen. Das ist besser als Betrachtung, Lesung und Predigt, als alles, was ihr wollt. Merkt euch dies und zieht Nutzen daraus für euch wie später für andere. Ich konstatiere mit innerer Beglückung, wie groß eure Sammlung ist und wie ernst jeder von euch an eine Seele denkt. Ja jeder von euch hat den Wunsch, seine Seele ins innerliche Leben einzutauschen und, dem Herrn ganz ausgeliefert, ein vollkommeneres Leben zu beginnen.
Heute Abend möchte ich euch ein paar Worte über die Gelübde sagen. Wenn früher die Gelübde mit großer Feierlichkeit umgeben waren, und die bürgerlichen Gesetze sie beschützten und sie sogar garantierten, so dass, wer das Gelübde der Armut abgelegt hatte, nichts mehr auf dieser Welt besitzen konnte. Wer das Gelübde der Keuschheit abgelegt hatte, konnte nie mehr eine Ehe eingehen. Und wer Gehorsam gelobt hatte, verblieb immer aufgrund eines bürgerlichen Gesetzes von seinen Vorgesetzten abhängig. Ja damals erschienen die Gelübde als etwas Großes und machten tiefen Eindruck. Ich erinnere mich, dass Herr Chappuis, der Vater der Guten Mutter, wenn er Geld an seine Töchter in der Heimsuchung von Freiburg sandte, immer hinzufügte: „Das müsst ihr eurer Oberin geben, damit sie nach Belieben darüber verfüge, weil ihr ja keine Verfügung darüber habt.“ Das wusste damals jedermann. Jeder kannte auch etwas Theologie, statt sich mit Lächerlichkeiten abzugeben. Selbst in Troyes kannte ich in dem ersten Jahr meines Priestertums eine gewisse Anzahl von Greisen, die ihre Theologie studiert hatten und die ihre religiösen Pflichten treu erfüllten. Sie waren vollkommen im Klaren darüber über alles, was sie für ihr Seelenheil zu tun hatten. Solche trifft man kaum mehr heutzutage. Der Priestermangel macht sich spürbar… In Italien, im Deutschen Reich und Frankreich, in allen katholischen Ländern zwang die Notwendigkeit die Bischöfe dazu, beim Papst inständig zu bitten, dass die Ordensleute, die in ihrem Ordensberuf nicht ausharren, in den Weltklerus aufgenommen würden. Und viele solche Erlaubnisse wurden gewährt. Das war ein schwerer Schlag, eine starke Erschütterung, der da der so festen Säule des Ordensstandes versetzt wurde!
Meine Freunde, was kann aber diese Änderung im Verhalten der Kirche an unserem Gewissen ändern? Oder hängen die Gelübde, die wir Gott abgelegt haben, auch nur im Geringsten von bürgerlichen oder Polizeigesetzen ab? Machen wir die Dispensen, die die Kirche „ad duritiam cordis“ (Anm.: „Wegen der Herzenshärte“) gewährt, uns im Grunde unseres Gewissens frei, ohne vernünftigen Grund gegen die Vereinbarungen zu verstoßen, die wir Gott gegenüber eingegangen sind? Angenommen, ihr fehlt gegen ein einem Menschen gegebenes Wort, ihr brecht die mit ihm getroffenen Vereinbarungen, nun, dann seid ihr eben ein ehrloser Mensch. Geschieht dies gegenüber einer Handelsgesellschaft, so betrachtet man euch als Diebe. In den einfachen Beziehungen der Freundschaft werdet ihr als charakterlos und feige angesehen. Sagt euch, dass die Gott im Innersten eures Herzens gemachten Gelöbnisse euch strikte und für immer verpflichten, oder aber überhaupt kein Versprechen und keine Verpflichtung kann uns hienieden binden und verpflichten. Dann hatte man durchaus recht, den Ehebruch zu erfinden! Was bleibt dann an Heiligem auf dieser Erde noch übrig, wenn nicht einmal Gott gemachte Gelübde mehr verpflichten? Nichts…
Gelübde sind also etwas Großes, meine Freunde. Man kann sie unter mehrfachen Gesichtspunkten betrachten.
Ordensgelübde ziehen eine Verpflichtung nach sich. Nehmt alle einschlägigen Bücher her: Alle sprechen des Langen und Breiten von den durch sie eingegangenen Verpflichtungen. Doch das genügt nicht ganz. Verpflichtung des Gelübdes: Der Ausdruck ist richtig, weil es nicht zu bestreiten ist. Aber ist es denn nicht mehr? Wer es ablegt, nimmt er denn nichts anderes als ein Joch auf seine Schultern? Findet er nur Mühsal und Leid darin? Nichts als Eisen und Fesseln eines Gefangenen? Ist der Ordensmann in keiner anderen Lage als der eines Sklaven? Die meisten Abhandlungen über das Ordensleben fassen den Ordensstand ein bisschen unter diesem Gesichtspunkt auf. Warum das? Vielleicht haben sie nicht den kompletten, sicheren und praktischen Begriff des Gelübdes…
Hier habt ihr den richtigen: Ihr legt das Gelübde der Armut, der Keuschheit, des Gehorsams ab, wie die Ordensregel es euch nahelegt, sie zu praktizieren. Ihr verpflichtet euch zu ihnen unter Todsünde. Unwichtig, ob feierliche oder einfache Gelübde: Ihre Verpflichtung ist dieselbe. Eure Gelübde verpflichten euch wie es die Gebote Gottes und der Kirche tun. Das ist ihr Lehrgehalt. Im Ordensstand habt ihr also dreizehn Gebote, statt der zehn, oder wenn ihr wollt, neun Kirchengebote statt sechs. Gelübde wären damit also nur Verpflichtung und nichts mehr? … Doch nicht, das stimmt nicht. Ein Gelübde ist eine sehr wirksame Hilfe von äußerster Milde, damit wir die Pflichten des Ordenslebens ertragen können. Statt eine Kette und ein Halseisen zu sein, sind sie eine Pforte zur Freiheit. Sie werfen uns nicht in ein finsteres Verließ, wohin kein Sonnenstrahl fällt, sondern sie sind das Licht des Lebens. Sie begraben uns nicht lebendig, wie die Römer es mit Jugurtha taten in seinem eisigen Gefängnis. Sie breiten vielmehr eine angenehme und sanfte Atmosphäre um uns.
Ich möchte nicht des Langen und Breiten in die Einzelheiten der drei Gelübde eintreten. Doch ein kurzes Wort zum Gehorsam sei mir gestattet: Ihr seid Ordensleute, demnach zum Gehorsam gehalten. Doch hört gut her! Immer, wenn ihr einen Gehorsam auszuführen habt, ob angenehm oder nicht, denkt daran, dass man in der Welt wie im Kloster oft zu gehorchen gezwungen ist. Ihr aber habt euer Gelübde, das euch in unmittelbaren Kontakt mit Gott und in direkte Beziehung zu ihm versetzt. Was ihr nur gezwungen getan hättet, das tut ihr jetzt freiwillig, mit Hilfe einer ganz speziellen Gnade Gottes. Gott gewährt gewiss Menschen guten Willens zwar immer seine gewöhnliche Gnade. Ihr aber, als Ordensleute, handelt aufgrund einer Vorzugsgnade, die eure Gehorsamstaten ganz vollkommen macht und sie mit der göttlichen Gnade durchdringt. Darin liegt für euch Heiligkeit. Wenn ihr Glauben und Vertrauen in euer Gehorsamsgelübde habt, wird es zu einem Licht und es wird Akte allerhöchster Heiligung und tiefster Tröstungen zeugen. Hier gewinnt ihr ein nicht nur gewöhnliches Verdienst, sondern, wie es Thomas lehrt, wir verdoppeln, wir verdreifachen, ja verhundertfachen unsere Verdienste aufgrund des Gelübdes. Unser Gehorsamsgelübde wird somit zu einer Hilfe und Gelegenheit zu viel größeren Verdiensten als alle, die wir unter anderen Umständen erringen könnten.
Versteht darum das Gelübde in diesem Sinn, und immer, wenn wir unseren Willen unterwerfen müssen, soll es kein mechanischer Gehorsam sein, oder etwas, was uns demütigt und unseren Willen erniedrigt. Es sei vielmehr eine Handlung, die unseren Willen mit dem Willen Gottes vereinigt, die uns heiligt und Gott gefällig macht. Nichts kann somit verdienstlicher und gottgefälliger sein als ein aufgrund eines Gelübdes erfolgter Gehorsam.
Habt ihr also einen Akt des Gehorsams zu setzen, dann sei es kein rein passiver: Ich muss gehorchen, ich habe den Gehorsam versprochen, ich habe Herz und Gewissen, ich bin ein Ehrenmann, darum gehorche ich. Das ist alles schön und gut. Ihr seid auf diese Weise gut disponiert. Ein anderer hat aber diese Veranlagung nicht, es fehlt ihm an Einsicht. Da erinnert er sich, dass er verlangte Gehorsam ein religiöser Akt ist, ein Akt der Gottesliebe, ein Akt großen Verdienstes vor Gott. Er gehorcht und Gott nimmt es an als eine viel verdienstlichere und gefälligere Tat in seinen Augen als wäre es ein reiner Vernunft- und Gewissensakt. Denn wir können, um es noch einmal zu sagen, nichts Verdienstlicheres tun. Lehrt der hl. Thomas nicht, die Ordensleute hätten einen besonderen Platz im Himmel: Es gäbe dort zwei Ordnungen, zwei Kategorien, zwei Klassen: Die der Ordensleute und die der Übrigen.
Ihr setzt einen Akt der Armut, beraubt euch einer Sache: Das ist ein vernunftgemäßer Akt, der die Kraft und die Großmut eures Willens und eure Charakterstärke beweist. Ihr tut es für Gott, aus Abtötung, aus dem Geist der Buße und Armut: Das ist sehr gut und vollkommen. Tut ihr es aufgrund eures Gelübdes des Gehorsams, so legt dieser Akt, der euch mehr oder weniger Opfer gekostet hat, unendliche Schätze und immense Hilfsquellen in eure Hände, die den anderen immer verschlossen bleiben. Der klösterliche Gehorsam ist der goldene Schlüssel, der uns Zugang gewährt zu den geheimsten und intimsten Kammern der Gottheit.
Die Keuschheit. Wir legen dieses Gelübde nicht nur in der Absicht ab, keine Ehe einzugehen und uns aller sinnlichen Genüsse zu berauben, sondern um Gott die ganze Liebe unseres Herzens zu schenken. Dieses Gelübde ist darum in den Augen Gottes von einer unvergleichlichen Vollkommenheit. Es macht aus einem Menschen einen Engel, ja mehr als das in gewissem Sinn, weil er Engel nach der Lehre des hl. Chrysostomos nicht zu kämpfen braucht, um seine Reinheit zu bewahren. Er kennt die Revolte des Fleisches und der Begierlichkeit nicht. Was ist aber die Folge unserer siegreichern Kämpfe? Dass wir selbst die reinen Geister übertreffen und unser Fleisch bis zu einer göttlichen Würde erheben. Ich sage nicht zu viel: „Ut effiziamini divinae consortes naturae.“ (Anm.: „Damit ihr der göttlichen Natur teilhaft werdet.“). Dieser Kampf reinigt uns und versetzt uns in den Rang Gottes, des ewigen Kämpfers gegen das Böse. Er gibt Anteil uns an den göttlichen Vollmachten, weil es dem Erlöser gegeben war, den Teufel zu Boden zu schlagen. Da erwerbt ihr aufgrund eures Gelübdes hundert Mal mehr Verdienste und bereitet euch einen hervorragenden Platz im Himmel vor. Lasst mich im Vorbeigehen eine Bemerkung machen: Alle großen Heiligen, alle die am meisten Gutes auf Erden gewirkt haben, wie z.B. der hl. Paulus, hatten die rauesten und fast unüberwindlichen Kämpfe in Punkto Keuschheit zu bestehen. Gott lässt sie zu und legt für diese Seelen ungeheure Hilfsquellen zur Heiligung des Nächsten bereit. Das, meine Freunde, ist das Geheimnis Gottes, das der Grund für die gnadenhafte Kraft und Stärke, die er in die Seelen der Priester und Ordensleute legt. In meiner Seelsorgeerfahrung konnte ich vielmals diese Feststellung machen: Die Seelen, die von Versuchungen heimgesucht werden und keine Angst davor haben, sondern sie beherrschen und bewältigen, und so über Wolken und Gewitter strahlen, haben über das Herz Gottes eine ungeheure Macht, eine immense Macht auch über die Herzen der Menschen. Gott ist eingedenk dessen, was dieser Priester für ihn getan hat, und ist überwältigend in den Gaben, die er in seine Hände legt.
Ihr seht schon, auch die Keuschheit ist keine demütigende Fessel, keine Kette, die uns an eine Pflicht bindet. Im Gegenteil ist sie der feurige Wagen des Elias, der uns zum Himmel entführt. Ich sage nicht zuviel, meine Freunde. Habe ich das etwa in Büchern gelesen? Nein, nirgendwo fand ich es, sondern allein in den Seelen.
Darum, meine Freunde, liebt eure Gelübde und haltet sie, so wie ich euch ja auch geraten habe, die Exerzitien zu halten. Denn da findet ihr alle nötige Kraft und Liebe. Oder meint ihr, der hl. Bernard habe anderswo seine Seele, sein Genie, seine Heiligkeit gefunden? Anderswo als in seinen Ordensgelübden? Ich sage euch, nein. Was der hl. Bernard geschaffen hat, tat er genau kraft seiner drei Gelübde. In Clairvaux bestand eine Zelle in einem Hängeboden unter dem Dach. Als der Abt von Montieramey ihn in seiner Krankheit besuchte, fand er ihn in diesem namenlosen Verschlag. Zum Sitzen fand er nur einen Mauerwinkel. Und das Hausdach war zugleich die Zimmerdecke seiner Zelle. So verstand der große Bernard sein Gelübde der Armut.
Betrachtet ihn jetzt einmal mit seinem Keuschheitsgelübde: Was er selbst mitteilt von den Angriffen des Teufels, den Versuchungen des Fleisches, von der Flucht der Welt. Seht nur die Herzenspeinen und Betrübnisse, die ihm Abschiede und die Sterbefälle verursachen, ihm, dessen Herz so liebevoll, zartfühlend, ja zärtlich war. Hört ihn nur seinen Bruder Gerard beweinen… Was hat den hl. Bernard und sein Herz so unvergleichlich gemacht? Es war das Gelübde der Keuschheit.
Und sein Gelübde des Gehorsams? Während seines ganzen Klosterlebens trieb er den skrupulösen Gehorsam zur hl. Regel bis an die äußersten Grenzen. Das hielt er auch nach Möglichkeit auf seinen Reisen. Wenn er durch Troyes zog, sich an den verschiedenen Orten um Clairvaux aufhielt, mit welcher Pünktlichkeit und Vollkommenheit erfüllt er da die kleinsten Pflichten des Ordenslebens, all die kleinen Übungen seiner Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams! Wie gehorchte er Gott, seiner hl. Regel sowie den verschiedenen Umständen, die sich ergaben! … Was hat denn unsere Gute Mutter so geheiligt? Ihre Ordensgelübde. Alle Geheimnisse ihrer Seele sind in den drei Gelübden beschlossen.
Ich komme noch mal auf den hl. Bernard zurück. Ich habe hier ein kleines Gemälde auf Kupfer. Jedermann sagt mir, es sei alt, und ich glaube es. Es stellt den hl. Bernard dar mit seinem durch das Fasten abgemagerten Gesicht. Er drückt die Lanze, die Nägel und die Dornenkrone an sein Herz… Und er selbst erklärt irgendwo den Sinn des Bildes: „Am Beginn meines Ordenslebens“, sagte er zu seinen Mönchen, „sammelte ich alle Gegenstände, die beim Leiden unseres Herrn gebraucht wurden: Das Kreuz, das auf seinen Schultern lastete, der Schwamm, der mit bitterer Galle getränkt war, der Essig, den er in seinen bittersten Leiden trank, die Lanze, die sein Herz durchstieß, die Nägel, die seine Hände und Füße durchbohrten. Und vor allen diesen kostbaren Gegenständen mach ich mir ein Bündel, einen Blumenstrauß, damit sie mir alle Verdienste ersetzen, die mir, wie ich wohl weiß, fehlen.“ So etwa sprach der hl. Bernard. Und das sind auch genau die Worte, die der Künstler meines kleinen Gemäldes ausdrücken wollte.
Auch unsere Gute Mutter Maria Salesia liebte die Armut so sehr, dass sie sich mit unvergleichlicher Aufmerksamkeit mühte, jede Empfehlung der hl. Regel oder der der klösterlichen Observanz zu erfüllen. Auch die Keuschheit liebte sie in einem Maß, dass sie selbst in den mühsamsten und schwierigsten Umständen mit Gott aufs Innigste vereint blieb.
Das, meine Freunde, ist das Geheimnis, das ist die wahre Lehre über unsere Gelübde. Und so werden die so verstandenen, geliebten und geübten Gelübde uns Stütze und Trost, die Wonne unserer Seele. Nur auf diese Weise sollen wir unsere Gelübde sehen. „Mea doctrina non est mea, sed eius qui misit me.“ (Anm.: „Meine Lehre ist nicht meine, sondern dessen, der mich gesandt hat.“). Ich übergebe euch diese Lehre als die Lehre der Heiligen, die unser Vorbild sind und in deren Fußstapfen wir treten sollen.
Macht euch daran, eure Gelübde so zu leben und sie mit Liebe, Großmut und Aufmerksamkeit zu gebrauchen. Seid zufrieden in den Versuchungen, die von Gelübden herstammen können. Die Versuchung bringt uns näher zu Gott, die Armut macht uns dem göttlichen Meister ähnlich, der Gehorsam eint uns aufs Innigste mit dem, der gesagt hat: „Hora mea nondum venit… Cibus meus est ut faciam voluntatem Patris mei.“ (Anm.: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen… Meine Speise ist es, den Willen meines Vaters zu tun.“).
Auf diese Weise haltet ihr euren Willen dem unseres Herrn vereint. Seht nur, wie das erhebt, stützt und das Ordensleben fruchtbar macht.
Sind das pure Erwägungen, um euren Geist zu beschäftigen? Nein, es ist Grundlage, wahres Fundament, das ganze innere Leben. Gehen wir in dieser Richtung voran. Dann sind wir wahre Ordensleute, Gott angenehm. Sind wir erwählte Seelen, Leuchten, die das Licht in (nach) Israel tragen, sind Vorläufer-Engel der göttlichen Gnade: „Ecce Dominus adest.“ (Anm.: „Seht, der Herr ist da!“).
Das sind unsere Gelübde, versteht sie gut! Bittet Gott um Einsicht, erfleht von ihm, durch Vermittlung der Guten Mutter eine exakte Idee von ihnen zu bekommen, sie wie die Heiligen zu lieben, ihnen anzuhaften nicht nur mit dem Willen, sondern mit dem ganzen Verstand und Herzen. „Quod dominus vobis concedat per misericordiam suam in Patris et Filii et Spiritui Sancti.“ (Anm.: „Das möge Gott euch gewähren in seiner Barmherzigkeit, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes.“). Amen.