Exerzitienvorträge 1894

      

Ansprache vom 18. August 1894 (Schluss der Exerzitien, Einkleidung  des P. Demoulin und Profess der Patres Boucher, Raphael, Pernin und Josef Durand)

Die Gabe Gottes

Müde von seiner langen Reise setzt sich unser Herr am Jakobsbrunnen nieder. Er wartet auf seine Jünger, die in der Stadt Lebensmittel einkauften. Eine Frau kam aus der Stadt Samaria, um Wasser zu schöpfen. Da richtete der Herr das Wort an sie: „Gib mir zu trinken!“ Die Frau war überrascht, dass ein Jude eine Samariterin anspricht und zu trinken begehrt, denn die Juden verachteten die Samariter und sprachen nicht mit ihnen. Darum sagte sie: „Wie kommt es, dass Du, ein Jude, mit mir, einer Samariterin, sprichst?“ Unser Herr: „Wenn du die Gabe Gottes känntest und den, der dich um Wasser bittet, dann würdest Du mich bitten, Dir zu trinken zu geben. Du würdest an der Quelle zu trinken begehren, die bis zum ewigen Leben sprudelt.“ Und der Herr nimmt die Gelegenheit wahr, diese Frau zu unterrichten, indem er ihr die Geheimnisse ihres Lebens offenbart. Und die Frau bekehrt sich und kehrt zu Gott zurück, von dem sie sich so weit entfernt hatte. Sie geht nach Samaria zurück und ruft ihren Landsleuten zu: „Kommt und seht. Vielleicht ist das der Messias, denn er hat mir alles gesagt, was ich getan habe.“

Meine Freunde, ich sage euch heute Abend dasselbe, was Jesus der Samariterin gesagt hat: Känntet ihr die Gabe Gottes! Wüsstet ihr, wer zu euch spricht und warum er euch bittet! Begriffet ihr die Gabe, mit der ihr ausgerüstet werdet, wenn ihr gleich den ersten Schritt ins Ordensleben tut, indem ihr eure ersten Gelübde ablegt.

Gott vermacht uns eine Gabe. Er kann uns nicht alles geben, was er hat. Die Kreatur  hat ihre Grenzen für göttliche Gaben. Gott kann uns nicht sein Leben, seine Weisheit und Gerechtigkeit geben, noch auch seine Göttlichkeit. Hat er einem aber die Gnade geschenkt, ihn zum Ordensstand zu rufen, kann man füglich sagen, er gibt ihm alles, was er geben kann und kann gar nicht mehr geben. Die Gnaden, mit der er seine Seele überhäuft, sind in besonderer Weise göttlich, wenn man so sagen kann: Er schöpft geradezu die Schätze in innerem Glück und zeitlichen Wohltaten, die er einer Seele überhaupt erteilen kann.

Meine lieben Freunde, wenn ihr wüsstet, was es heißt, von Gott in solcher Weise geliebt zu werden, sein Eigentum zu sein, sein Werk inmitten der Menschen zu vollbringen, und ihn auf Erden zu vertreten! Der Ordensmann, der den Anruf Gottes vernimmt und befolgt, ist in seiner Seele mit einem göttlichen Stempel gezeichnet, er ist nicht mehr sein Knecht, sondern Freund Gottes: „Iam non dicam vos servos, sed amicos.“ (Anm.: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde.“). Unser Herr hat keine Geheimnisse mehr vor ihm: „Omnia quaecumque audivi a Patre meo notum feci vobis.“ (Anm.: „Alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch mitgeteilt.“). Alles, was sein Vater ihm offenbart, kündet er uns weiter. In der Heimsuchung von Troyes wohnte damals die Schwester Marie-Genofeva. Jedes Mal, wenn ich ins Sprechzimmer ging, sagte sie zu mir: „Gott hat mir dies und das gesagt.“ Und dies war echt, weil alle ihre Voraussagen sich erfüllten. Auch ihr, meine Freunde, werdet ganz persönlicher Mitteilungen gewürdigt werden: Solche über euer Amt, über Dinge, über die ihr sprechen müsst, über eure Beziehungen zum Nächsten, über die Seelenführung, die Erziehung der Kinder, den Unterricht und die Wissenschaft. Eure Wissenschaft wird die der Seelen zu Gott führen, denn unser Herr wird euch alles sagen, was er weiß. Unser Herr kann in der Tat nichts Besseres geben als die Freundschaft Gottes, die Gewissheit, dass Gott uns liebt, dass er mit uns ist und uns hilft, dass wir an seinem Glück und seiner ewigen Seligkeit Anteil haben werden. Man kann einer Seele hienieden nicht mehr geben. Zu unserem eigenen Vorteil sowie dem unserer Lieben kann darum nichts dem Ordensberuf vorgezogen werden!

Was kann Gott schon Besseres geben? Vielleicht möchtet ihr gern Almosen spenden. Würde Gott euch große Reichtümer schicken und dazu ein barmherziges Gemüt, um der Not zu steuern und die Gabe Gottes höher einzuschätzen, nun das wäre ja gut und wertvoll. Aber was wäre schon die Zeit, die ihr opfert und euer Almosen, das nur das tägliche Brot für das irdische Leben mitteilt und das materielle Elend erleichtert? Ihr aber dürft den Seelen das Brot des ewigen Lebens brechen, Leben, Heil und Glück allerorten. Kein Almosen des Geistes und des Leibes wiegt das Almosen auf, das ihr den Seelen schenken könnt!

Wenn Gott euch zu dieser Weltstunde aussendet, wenn er euch heute auf diese Welt gestellt hat, zu dieser Epoche, in diesen Jahren, dann ist das wiederum eine immense Gnade. Denn diese Zeit gehört uns, sie gehörte nicht denen, die uns vorausgegangen sind, oder die nachfolgen, und wir dürfen uns nicht beklagen, dass Gott gerade diese Wahl getroffen hat. Denn diese Zeit ist mit einem besonderen Stempel Gottes gezeichnet in der Kirchengeschichte. Wenige Phasen der Geschichte, oder gar keine, erheischt so viel Apostolat und Einsatz. Nie war das Wort Gottes nötiger als zu dieser Stunde. Vor einiger Zeit haben wir eine Statue der hl. Jungfrau von Orleans aufgestellt. Man hat viel über diese Heilige gesagt. Meines Erachtens hat man aber einen Punkt nicht genug betont: Die Verwirrung, den Stumpfsinn und die Verblödung des vaterländischen Geistes in Frankreich von damals. Man nahm es hin, dass Frankreich keine Nation mehr war, dass es vernichtet und unterjocht wurde. Man warf sich einem fremden und feindlichen Volk in die Arme, man ergab sich ihm. Alle Franzosen waren damals verrückt, es war unbegreiflich. Welchem Umstand musste man einen derartigen Irrtum zuschreiben? Wie kann ein zivilisiertes und christliches Volk sich solch einer Entmutigung hingeben und mit freudigem Herzen die schändlichste Knechtschaft annehmen? Es gab offenbar in Frankreich der hl. Jungfrau von Orleans weder Verstand noch Herz!

Nun, die jetzige Epoche gleicht der damaligen fast haargenau. Es scheint, Frankreich will keine Nation mehr bleiben. Es betreibt freudigen Herzens täglich Selbstverstümmelung, indem es das Gebot Gottes verlässt. Und dabei handelte unser Herr mithilfe eben dieses Frankreichs, er führte es zu glorreichen Schicksalen. Frankreich gelangte unter den Nationen an die erste Stelle, und das nur dank dem katholischen Glauben. Zur jetzigen Stunde verwirren sich wie zur Zeit der hl. Jungfrau von Orleans die Köpfe, erkalten die Herzen. Frankreich marschiert im Schlepptau von Leuten, die völlig den Verstand verloren zu haben scheinen, die sich bewusst zugrunde richten, und sich selber ihres Einflusses berauben. Je mehr Hindernisse sie der Wiederaufrichtung des Vaterlandes entgegenstellen, umso mehr glauben sie, etwas Gutes geschafft zu haben, genauso wie es zur Zeit der Jungfrau von Orleans war. Gott hat damals das Land gerettet mittels des Armes eines einfachen Bauernmädchens. Das Gebet der hl. Johanna von Arc im kleinen Zimmer von Domremy, mit Wänden aus Erde und Schlamm und keinem einzigen Fenster zur Kirche hin, hat die Wende zum Heil Frankreichs gebracht. Auch wir befinden uns in einer Epoche, die der Jungfrau von Orleans gleicht. Dem entsprechend müssen auch wir beten und handeln. Unsere Bemühungen, mögen sie noch so unbedeutend erscheinen, rufen ungeheure Wirkungen hervor, gerade weil sie so unbedeutend und bescheiden sind.

Hat mir denn die Gute Mutter mehr als einmal die Resultate unseres Unternehmens angekündigt? Daran müssen wir glauben, meine Freunde, stärker als ich es damals getan habe. Die Oblaten kommen genau zur richtigen Stunde in die Welt, sie müssen Frankreich helfen, zu Gott zurückzufinden. Hat übrigens der Papst uns nicht das gleiche gesagt, P. Deshairs und mir: „Geht nach Frankreich!“

Sagt mir: War Jeanne d’Arc, nachdem sie die göttliche Eingebung erhalten hatte, und sie sich auf den Kampf vorbereitete, nicht viel treuer gegen Gott als vorher? Ging sie nicht öfter zur hl. Beichte und Kommunion, war ihr Gebet nicht beharrlicher und hochherziger, ihr Verhalten nicht treuer? Genau das sollten auch wir tun. Das sollten auch wir verwirklichen, ihr meine Freunde vor allem, die ihr die gleiche Laufbahn vor euch habt. Dann werdet ihr die gleichen Wunder vollbringen inmitten dieses Volkes, das eine gleiche Geistesverwirrung erlebt, nur nicht zu den Engländern überläuft, sondern zum Teufel.

„Si scires donum Dei.“ (Anm.: „Wenn du doch die Gabe Gottes erkennen würdest!“). Begreift darum, warum Gott euch ruft, was er euch leise ins Ohr des Herzens und des Verstandes flüstert. Steht auf, geht voran und tut, was Gott euch aufträgt! Diese leisen inneren Stimmen sind eine Gabe der Liebe, einer ungeheuren Liebe zu euch. Meint ihr, Gott habe das Mädchen von Domremy nicht mit einer ganz besonderen Liebe des Wohlgefallens und der Zärtlichkeit geliebt? Und seht nur die außerordentlichen Wirkungen der göttlichen Liebe, die in das Herz dieses kleinen Wesens gefallen ist! Oder ist es nicht ein Zeichen ausnehmender Liebe, einer unaussprechlichen Zärtlichkeit, wenn Gott die Seele eines Kindes oder Jünglings ruft, wenn er sie ruft, sich für das Heil der Seelen einzusetzen? Die hervorgebrachten Wirkungen sind dann unabmessbar. Doch unabhängig von diesen Gedankengängen, die etwas erhaben klingen mögen, können wir andere ausfindig machen, meine Freunde, die ebenso schlüssig und sprechend sind: Wenn wir den Durchschnitt unseres Lebens, unsere alltäglichen Beschäftigungen ins Auge fassen. Hier, und ich möchte sagen, gerade hier gilt: „Si scires donum Dei“, verstündet ihr doch die Gabe Gottes! Gott hat sich eure Seele ausgewählt, ihr gehört ihm, ihr, seine Stellvertreter und Minister (Diener). Irgendeine arme, verirrte und geplagte Seele kommt zu euch, um von euch das Licht zu erbitten, den richtigen Weg zu erfragen, um den Herrn zu finden und nicht mehr zu verlieren. Und ihr öffnet ihr das Tor zur göttlichen Liebe, sagt ihr, was sie tun müsse, um Gott zu sehen und zu verstehen. Ihr seid das Sprachrohr, der Kanal, das Werkzeug der göttlichen Gnade und des Seelenheils. Diese Dinge bilden euren Schatz, sind euch vorbehalten, eine Gabe, die Gott nicht allen schenkt, nicht einmal seinen Engeln. Denn Letzere besitzen nicht wie ihr die Schlüssel zu den Geheimnissen Gottes. Sie empfangen nicht, was ihr empfangen habt, einen Teil des Blutes unseres Herrn Jesus Christus, einen Teil des Lichtes und der allmächtigen Kraft des Hl. Geistes, um die Geister zu erleuchten, und die Willen zu stärken. Das ist außer euch niemandem sonst mitteilbar. O, wenn wir das verstünden, wenn wir begriffen, wie unser ganzes Sein infolge unserer Berufung zur Verfügung Gottes steht, in die Fülle der Kraft Gottes und die Tiefe der Geheimnisse Gottes eintritt! Wie wir da den Seelen Gott selbst, die göttliche Wesenheit geben! ...

Sodann, meine Freunde, was uns betrifft, ist die Gabe Gottes nicht nur ein allgemeines, universelles Geschenk, sondern die Gabe der Guten Mutter im Besonderen. Hier steht eine ganz eigene Offenbarung und Erleuchtung der Seelen zur Verfügung, denen diese Gabe anvertraut wurde. Soeben las ich diesbezüglich einen Brief eines hervorragenden Ordensmannes, des Generalprokurators der christlichen Schulbrüder. Die Beweggründe seines Briefes, was er über die Lehre der Guten Mutter sagt, den Vorteil ihrer Gabe, die Seelen zu Gott zu führen, besonders die Ordensseelen, ist ganz bedeutsam. Was er darüber sagt, beweist, wie tief er selbst davon durchdrungen ist, und wie sehr er das alles selber benutzt.

Das ist schon etwas, solch ein Lehrgut! Und ihr seid die Besitzer davon. „Si scires donum Dei!“ Auf welche Weise kommt ihr aber zum Verständnis desselben? Durch eure Treue, durch euer Innewerden Gottes in der Betrachtung, der hl. Messe, der guten Meinung, in den Augenblicken der Prüfungen, die ihr zu bestehen habt. Da kommt der Erlöser zu uns, wir spüren seine Gegenwart, wir begreifen, dass er da ist im innersten Schlagen des Herzens, das seine Liebe enthüllt: „Si scires donum Dei!“

Wir alle ohne Ausnahme sind dazu berufen, an dieser Gabe Gottes teilzuhaben, jeder nach dem Maß der Berufung, die Gott ihm zuteilt. Der Anteil ist also individuell sehr verschieden, doch jeder hat seinen Teil. Wenn der Familienvater seinen Kindern das Brot bricht, bekommt jeder seinen Teil je nach seiner Größe und seinem Hunger. Das Kleinkind, das nur ein kleines Stück erhält, wird ebenso großzügig behandelt, wie der Größere mit seinem größeren Stück. Gerechte Verteilung bedeutet nicht, allen exakt gleiche Teile zuzuweisen, sondern eine Zuteilung, die den Bedürfnissen jedes einzelnen bei der Summe seiner geistigen und körperlichen Kraft entspricht.

Lasst uns heute, meine Freunde, in der Nachfolge der Samariterin uns versammeln um den Brunnen Jakobs, um den Quell der Segnungen, wo der Erlöser sich jeder Seele, die er liebt und beruft, so zeigt, wie er ist. Drängen wir uns in seine Nähe, hören wir, wie er auch an uns die Worte richtet: „Si scires donum Dei!“ Antworten wir ihm mit der Samariterin: „Oh, Herr, gib mir von diesem Wasser, lass in meinem Herzen diese Quelle aufsprudeln, die hinüber fließt  ins ewige Leben, und die meine Seele tränken wird, dass sie nie mehr dürstet nach etwas anderem, sondern gestillt sei für das ewige Leben.“

Das ist der Sinn eures Einsatzes, eurer Gelübde. Seid also glücklich, euch dem Herrn übergeben zu können. Möge er euch alle Tage eures Lebens die Fülle der Gnaden schenken, die er euch heute zuteilt. Mögen diese Gnaden von Tag zu Tag wachsen bis zu dem Tag, wo er euch in die ewigen Gezelte einführt. Amen.