Exerzitienvorträge 1893

      

2. Vortrag: Mittel um gute Ordensleute zu werden:
I. Unser Verhältnis zu Gott.

Um gute Ordensleute zu werden, gebrauchen wir die Mittel, die uns die hl. Regel an die Hand gibt. Sie sind zahlreich, und es ist nicht leicht, sie alle während der Exerzitien auf eine komplette und fruchtbare Weise durchzusprechen. Wir kommen aber zum selben Ziel, glaube ich, wenn wir uns während der kommenden Tage einfach Gott, den Menschen und uns selbst gegenüberstellen.

Das erscheint vielleicht ein wenig vage, allgemein und schwierig für unsere Praxis, wenn wir uns Gott gegenüberstellen. Man liest im Leben der Heiligen, dass sie ihr Leben in der Gegenwart Gottes nie unterbrachen. Das ist eine Einstellung, die uns vielleicht verwundert, geniert und belastet. Aus diesem Grund aber ist es so schwer, heilige Ordensleute zu werden.

Der hl. Bernard lebte dermaßen in der Gegenwart Gottes, dass alles Geschaffene, alles, was er sah und berührte, bei ihm ein Erzittern der höchsten Liebe Gottes auslöste. Wie weit war er doch da von uns entfernt, die im Anblick der Geschöpfe nur allzu oft etwas natürlich Triebhaftes, Unvermeidliches und Schicksalhaftes erleben. Auch unsere Gute Mutter hat während ihres ganzen Lebens nichts anderes getan als unter den Augen Gottes zu wandeln. In ihren Gebeten, Handlungen, Leiden und Arbeiten stand immer Gott vor ihr, gab seine Anweisungen und erleuchtete alles mit seinem göttlichen Licht. Bedenkt es wohl: Dieses Leben in der Gegenwart Gottes ist kein Zustand, den wir persönlich erstreben oder nicht erstreben können. Auch keine Vollkommenheit, die uns als Furcht großer Anstrengungen und als Erbteil gewisser Vorzugsseelen zufällt. Wahrhaft priesterlich und klösterlich kann man nicht sein, wenn nicht Gott bei all unseren Handlungen und Entschlüssen seinen uneingeschränkten und allerhöchsten Platz einnimmt. Sind wir alle auf dieser Stufe schon angelangt? Welchen Platz nimmt, wenn wir vom Gebet dem Sakramentenempfang, der hl. Messe und den religiösen Übungen absehen, Gott in meinem Leben ein? Und was können wir tun ohne ihn? „Sine me nihil potestis facere.“ (Anm.: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“). Sobald ihr nicht mit mir seid, vermögt ihr nichts mehr. Ich bin der Stamm, ihr die Zweige. Wenn ihr nicht mit mir seid, seid ihr vertrocknete Zweige und nur noch gut, ins Feuer geworfen zu werden. Es führt somit kein Weg daran vorbei, dass wir in uns eine Gewohnheit, einen Zustand schaffen, der bewirkt, dass Gott immer und überall mit uns ist, bei all unserem Tun, so dass wir nur noch durch ihn handeln, leben und atmen.

Setzt das einen Zustand beständiger Betrachtung voraus, fest formulierter Gebete, die in jedem Augenblick lebendig und liebedurchglüht sind? Nein. Dieser Zustand besteht vielmehr in einer ständigen Bereitschaft des Willens, ganz Gottes zu sein, eines Willens, der alles für Gott und in seiner Gegenwart tun will, alles aus seiner göttlichen Hand nehmend und annehmend. Unablässig zu Gott seine Zuflucht nehmend in der Einfalt des Herzens, unter seinem Blick zu wandeln trachten, ganz von ihm abhängen: Das heißt für uns, in der Gegenwart Gottes leben. Das ist keine ermüdende Anstrengung, weil hier eher der Wille als der Verstand und die Vorstellungskraft arbeitet. Wenn ihr euren Geist und eure Gedanken, eure Phantasie Gott schenkt, wenn ihr euch mit ihm beschäftigt, dann ist das gut, aber wenig. Gott schaut nicht viel auf unseren Verstand. Hat er doch selbst dem Teufel seinen ganzen Verstand gelassen, doch das Herz hat er ihm weggenommen. Der Teufel urteilt, versteht, sieht, denkt, kann aber nicht mehr lieben. Der Liebesfähigkeit ging er verlustig. Er kann nur noch hassen. Wir hingegen lieben Gott, indem wir ihm unseren Willen zum Opfer bringen. Indem wir jeden Augenblick unseren Entschluss bekunden, ihm zu gehören, alles mit ihm für ihn zu tun. Damit haben wir aber das beste Mittel gefunden, sein Eigentum zu werden. Sicher drücke ich mich nicht so gut aus wie ich möchte. Es ist immer schwer, einen Seelenzustand, ein Gefühl, eine Leidenschaft treffend zu definieren. Es ist schwierig, eine allumfassende Vorstellung von einer so abstrakten und geistlichen Sache zu vermitteln. Ich kann es nur versuchen, euch davon eine Idee zu geben, die dann von euch je nach dem göttlichen Licht, das Gott jedem zuteilt, verstanden wird. Begreift aber auf jeden Fall die dringende Notwendigkeit, dass wir auf diese Weise in der Gegenwart Gottes leben: Eine Gegenwart mehr des Willens und der Aktion als des Verstandes und der Vorstellung. Gott sollte immer den ersten Platz einnehmen bei allem Tun unseres Lebens. Es ist notwendig, dass der Ordensmann sich angewöhnt, nur das zu lieben, was Gott liebt, nur das zu suchen, was Gott sucht, seine Entschlüsse nur in der Gegenwart Gottes zu fassen, sich nur an Göttliches zu halten, statt am eigenen Willen, am Stolz, an den Leidenschaften und der eigenen Person zu kleben.

Ich sah im ganzen Leben der Guten Mutter Maria Salesia eine so gleichbleibende Vollkommenheit, etwas über der menschlichen Natur so Hochstehendes, dass bei all ihrem nichts ihr Mühe zu machen schien. Alles war einfach und natürlich, ohne Merkwürdigkeiten und Besonderheiten. Es war ein Leben beständiger Gottvereinigung, die all ihre Handlungen vergöttlichte. Dieser Zustand von Gottvereinigung bewirkt, dass der Ordensmann in Wahrheit ein Mann Gottes ist. Er handelt, spricht und führt alles zu Ende in Zusammenarbeit mit Gott. Gott ist mit ihm. Gott ist die Luft, die er atmet, die Speise, die ihn aufrechterhält, das Licht, das ihm leuchtet. Der hl. Vinzenz von Paul betete sein Brevier, hielt Betrachtung, las die hl. Messe, hörte den und jenen an, alles, was er tat, tat er mit Gott, unterhielt sich mit ihm über alles, was ihn beschäftigte, über die Hilfsmittel, wie er das Land Lothringen oder die Champagne ernähren könne. Und alles gelang ihm. Der hl. Kirchenlehrer Alfons v. Ligouri handelte als Student wie als Prediger nicht anders. Der hl. Thomas von Aquin sprach mit dem Gekreuzigten, der ihm die Antwort nicht schuldig blieb. Der hl. Franz v. Sales kletterte in seiner Chablaismission auf die schneebedeckten Berge und sagte dabei zu Gott: Mein Gott, wenn mein Leib auch kalt ist, mache, dass meine Seele brennt und ich mit mir überall das Feuer Deiner Liebe hintrage. Versteht also wohl: Hier handelt es sich um einen Zustand, eine neue Weise zu sein.

Stellen wir uns nicht vor, die Aktion der Heiligen sei ein rein persönlicher Akt ihrerseits gewesen. Gewiss waren sie frei im Tun und Lassen. Wenn sie aber so große Dinge vollbrachten, dann geschah das nur, weil sie in Vereinigung mit Gott handelten. Unser Herr sagte nicht umsonst: „Ich bin der Stamm, ihr die Zweige.“

Lasst uns darüber unser Gewissen erforschen: Welchen Platz nimmt Gott in unserem Leben als Priester und Ordensleute ein? Was berührt uns, bestimmt uns, interessiert und berät uns? Was fühlen (empfinden, denken) wir? Wir, immer nur wir! Was findet sich in diesem „Wir“ von Gott? Gewiss gibt es bei uns immer eine Tür, durch welche Gott uns zur Hand geht, uns ermutigt. Aber genügt das? Was gibt für gewöhnlich bei uns den Ton an? Was gefällt uns? Wo bleibt Gott? Lasst uns darüber einmal ernst unser Gewissen erforschen. In unserer Kindheit hatten wir nicht die Gewohnheit, in der Gegenwart Gottes zu leben. Natürlich möchten wir Gott nicht abseits liegen lassen und schwere Sünden begehen. Wir leben zwar in der heiligmachenden Gnade. Aus welcher Quelle erfließen aber unsere äußeren Handlungen und unsere ganze Arbeit? Wo holen wir uns Kraft und Mut? Wie oft haben wir in unseren Schwierigkeiten Gott angerufen und befragt? Tun wir es in erster Linie für uns und aus uns, wenn wir essen, uns erholen und spazieren gehen? Kommt Gott dabei nicht zu kurz? Um das zu begreifen, meine Freunde, muss man es erlebt haben. Ohne das tut man sich schwer. Nun, ich hab es erlebt. Ich hatte dieses Leben der Gottvereinigung mit all seinen Phasen vor meinen Augen, wie ich auch die Resultate während vieler Jahre beobachten konnte. Ich sagte mir damals: Worin besteht die Heiligkeit, wenn nicht in diesem? Darum wollte ich, solange die Mutter Maria Salesia lebte, nie einen anderen Heiligen sehen. Ich hatte ja alles, was ich brauchte. So kam mir nie der Gedanke, den hl. Pfarrer von Ars oder sonst einen aufzusuchen. Ich hätte gefürchtet, doch nicht all das anzutreffen, was ich hier fand: Die komplette Heiligkeit, die vollständige Entsprechung auf das Wirken Gottes in einer Seele, das menschliche Vollwesen (…), das in der Gotteinheit sich entfaltet. Ich hätte nichts entdeckt, was mir so klar und frei von allem Rein-Menschlichen wie hier erschienen wäre.

Fragte man die Gute Mutter nach etwas, so sagte sie zunächst nichts, senkte den Kopf und schien jemand zu befragen und anzuhören. Dann antwortete sie einfach mit „Ja“ oder „Nein“, und ein Irrtum war dann ausgeschlossen. Gott selbst nämlich beriet sie und sie nicht im Stich. Dieser Zustand, meine Freunde, muss bezahlt und erkauft werden, er verlangt ständige Treue. Das ist das Geheimnis des inneren Lebens. Das Aufblühen der religiösen Orden, das wir in den ersten Jahrhunderten und in bestimmten Epochen der Kirchengeschichte bewundern, und das die Welt mit Klöstern und jeder Art von Orden und Instituten überzog, hat keinen anderen Daseinsgrund: Man suchte Gott allein zu finden. Darum suchten die Einsiedler einsame Gegenden auf, die Einsamkeit, wo man die Stimme Gottes besser vernahm. P. Retournat, den ich in der Großen Kartause öfters besuchte, hatte seine Einsiedelei unter einer wenig begangenen Treppe aufgeschlagen, wohin das Licht nur durch ein hohes Fensterchen drang. Ich sagte zu ihm: „Herr Pater, warum wählen Sie keine größere Zelle, die heller ist? Das würde man Ihnen doch bei Ihrem Alter erlauben.“ Er antwortete: „Zu uns kommen so viele Fremde, dass ich ständig den Lärm hören würde, während ich hier einzig die Stimme Gottes vernehme und den Schrei der Adler. Nichts lenkt mich ab von dem Gedanken an Gott und von der Gegenwart Gottes.“

Die Gegenwart Gottes muss also in unserem Herzen tief verankert sein. Dafür tun wir zu wenig. Das sollte aber eine feste Gewohnheit werden. Am Morgen sollen wir mit Gott das Tagewerk voraussehen und zu Gott sagen: Ich will dir heute den dir gebührenden Platz einräumen. Um echte Ordensleute zu sein, müssen wir Gott unsere gesamte Existenz übergeben und ihm seinen Platz ohne Abstriche überlassen.

Der schwache Glaube unserer Umgebung macht, dass wir keinerlei Stütze finden, um in der Gegenwart Gottes zu leben. Diese Lebensweise kann man sich übrigens nicht erzählen oder weitergeben, selbst unter Freunden nicht. Praktiziert man sie aber, dann fühlt es jedermann und begreift es. Von diesem Geist der Gegenwart Gottes ist die ganze Hl. Schrift durchweht: Am Abend erfrischte eine leichte Brise das irdische Paradies und Gott stieg herab und unterhielt sich mit unseren Stammeltern. Später unterhielt er sich in vertrautem Zwiegespräch mit den Patriarchen, mit Israel, seinem erwählten Volk. Er kämpfte auf seiner Seite und war immer mit ihm. Auch im Evangelium ist Gott überall zugegen. Atmet nicht alles seine Gegenwart und seine Aktion? Alle Briefe des hl. Paulus betonen die Nähe und den Einfluss Gottes, seine Einheit mit Seele der Gläubigen. Er ist immer da und greift auf seine positive Weise selbst in die kleinsten Dinge ein. Der hl. Paulus erleidet Schiffbruch. Eine Natter beißt ihn in die Hand: Er muss ein Übeltäter sein, sagt das Volk, da er, kaum einer Gefahr entronnen, in eine noch größere fällt. Doch Gott lässt seinen Diener nicht im Stich, sondern heilt ihn. Paulus sinkt dreimal in den Rachen des Meeres und Gott zieht ihn jedes Mal heraus. Die Seele des Völkerapostels lebte in Gott wie der Fisch im Wasser des Ozeans lebt. Darum prüfen auch wir uns einmal gut, welchen Platz Gott in uns einnimmt und welcher es sein müsste. Das ist keine Idee, ich sage es noch einmal, sondern eine Existenz, ein Leben, eine Tatsache. Eine Tat, die man ausdrücken, aber nicht immer erklären kann. Erbitten wir von unserer Guten Mutter diese Gabe, dass Gott immer mit uns sei wie er mit ihr war. Dass er auch uns so großmütig, ehrlich, wahrheitsliebend und frei von jeder Doppelzüngigkeit mache. Dass er uns ein gerades Herz gebe, das bis zum Ende geht ohne unterwegs stehen zu bleiben. Dass unser Gehorsam wie der ihre voller Entschlossenheit sei. Entschlossene Seelen tun alles Gute vollständig und nicht halb. Wer vermag das aber? Gott mit uns, „deus nobiscum“. Gott mit uns, Emmanuel. Was tun, um dahin zu gelangen? Sich diese Gewohnheit zulegen, und darum immer daran denken, Eifer aufzubringen für die Sache, vor allem es wollen. Von Zeit zu Zeit muss man sich fragen: Was ist Gott in meinem Tun, in der Demütigung, die ich erleide, in dem, was ich esse, trinke, in dem, was ich an Kleidung anziehen, in dem, was ich unternehme?

Bittet die Gute Mutter, dass ihr diesen Anteil Gottes nicht vergesst. Dieser Zustand, in dem sie beständig lebte, übte auf ihre Umgebung, nach meinem Urteil und meiner Beobachtung, einen so starken Einfluss aus, dass sie mit dem hl. Bernard sagen konnte: „Alle, die mich in der „Clara vallis“ sehen werden, werden Gott mit mir im Himmel sehen.“ Alle nämlich, die sie gesehen, neben ihr gelebt, sie gehört haben, werden in den Himmel kommen und sie dort sehen. Bis zum jetzigen Augenblick scheint alles zu beweisen, dass ihr Versprechen sich erfüllen wird. Für uns aber ist das praktischste Mittel, zu diesem Leben mit Gott zu gelangen, unser Direktorium zur Hand zu nehmen und es treu zu erfüllen. Versucht einmal drei Monate lang, es gewissenhaft zu üben, dann werdet ihr es selber erleben. Wir müssen also schließen, dass es unmöglich ist, ein heiliger Ordensmann und guter Priester zu werden, wenn Gott nicht der ständige Begleiter unseres Lebens, unser Helfer, unsere Stütze in unseren Schwächen und Versuchungen ist. Darum: Gott mit uns, Gott an unserer Seite, Gott in uns!