1. Vortrag: Die äußere Abtötung
Exerzitien haben für uns, meine Freunde, eine einzigartige Bedeutung. Die Exerzitien, die wir heute beginnen, sind nicht nur für uns bestimmt, sondern für all unsere Werke sowie für alle Seelen, die von uns abhängen, wie immer die Abhängigkeit beschaffen sein mag. Ja noch mehr, diese Exerzitien haben nicht nur für uns Wert, sondern für die ganze Zukunft unserer Kongregation. Darum müssen wir Gott mit Furcht und Zittern nahen, indem wir ständig die uns anvertraute Sendung im Auge behalten.
Die hohe Bedeutung der Einkehrtage und ihr Einfluss auf unsere Sendung zeigt uns, wie notwendig es ist, dass wir zu ihnen unser ganzes Ich mit einbringen, unser ungeteiltes Ich, denn unser Ich bedeutet wenig in sich, um die Resultate zu erzielen, die in den Plänen der Vorsehung für uns schlummern. Schließlich, wenn wir dieses unser Selbst einsetzen, erfüllen wir unsere Pflicht Gott gegenüber und kommen seinem Wunsch nach, mit einem Wort: Wir stehen in seinem Willen.
Die Exerzitien sollen, besonders für uns, nicht nur in einer Belehrung bestehen, sondern vor allem in einem Einüben dessen, was wir zu tun haben. Der hl. Bernhard sagte zu seinen Mönchen, die geistliche Einsamkeit sei die Formung des Lebens. Diese Tage sollen als die „Form“ unseres Lebens sein: Was ihr in diesen Tagen tut, sollte dem gleichen, was ihr ständig zu tun habt. Kommt darum nicht zu einer Schule, sondern zu einer Ausbildung. Nicht um zu lernen, was ihr wissen sollt, sondern, was ihr tun sollt.
Welches soll nun die innere Form unseres Lebens sein? Nach unserem Direktorium und unseren Satzungen gibt es nur zwei Worte, die unser ganzes Leben bestimmen: Abtötung und Aufmerksamkeit.
Zuerst von der Abtötung. Wir haben keine äußeren Abtötungen in unserer Regel, kein Fasten, härenes Gewand oder Bußgürtel. Die äußere Abtötung ist aber unerlässlich für das Ordensleben. Darum müssen wir die äußere Abtötung anderswo suchen. Und während dieser Einkehrtage sollten wir bereits die Abtötung jeden Augenblicks, von der wir gleich sprechen wollen, eifrig üben. Bemühen wir uns daher, sie gut zu verstehen während dieser Tage, sie uns zu merken für die Zeit danach und treu dann zu praktizieren, was wir jetzt verstanden und geübt haben.
Unsere Abtötung muss bei uns vor allem in unserer äußeren Haltung ansetzen, in unseren natürlichen Gewohnheiten, im Essen und Trinken, in Kleidung, in unserem Auftreten und Verhalten, in unseren Beziehungen zum Nächsten, besonders zu unseren Mitbrüdern. Immer sollen wir die Bescheidenheit unseres Herrn in unseren Gliedern, in unserer ganzen Person zur Schau tragen. Denn ohne sie gibt es keinen Oblaten, ohne sie keine klösterliche Seinsformen und Leben. Beachtet das Wort der Guten Mutter: Man wird den Heiland wieder über diese Erde wandeln sehen. Wir müssen demnach Christus wieder zur Erscheinung bringen. Bei unserem Anblick sollten unsere Zeitgenossen ihn vor sich sehen. Es ist auch das Wort des hl. Paulus, der die ersten Christen „bei der Bescheidenheit Christi“ beschwört, d.h. durch seine Art, sich zu geben und zu verhalten. Messen wir darum dieser Abtötung unseres Äußeren eine außerordentliche Bedeutung bei. Das sollte eines der Hauptmittel unseres Einflusses auf die Seelen sein. Die Welt kann uns ja nicht aus unserem Inneren, das sie nicht sieht, kennenlernen, sie urteilt bloß nach unserem Äußeren. Geben wir uns einfach und bescheiden, so werden wir alle, die uns sehen, beeindrucken. Wir werden mit uns die Seelen versöhnen und ihr Vertrauen gewinnen. Darum müssen wir diese Art Abtötung, wollen als Ordensleute erscheinen, zu unserer machen. Ist es ja die einzige Form von Askese, die uns zur Verfügung steht.
Das heißt ja nicht, wir müssten ein gezwungenes und sonderbares Äußere zur Schau tragen mit verdrehten Augen und einem verkniffenen Gesicht. Nein, unsere Erscheinung sei von äußerster Einfachheit. Betrachten wir einige Details: Unsere Haltung im Gebet zunächst: Stützen wir uns nicht auf, wenn wir nicht krank sind. „Aber, Herr Pater, das ist doch eine Unterweisung für Kinder.“ Jawohl, und zwar für ganz kleine Kinder. Haltet euch dennoch an das, was ich euch da rate. Wir halten unseren Körper beim Beten gerade, den Kopf etwas geneigt, die Hände, oder besser, die Finger, verschlungen. Zur Zeit des hl. Stifters hat man nämlich die Hände ineinander verschlungen, was man heute nicht mehr tut. Unsere Füße setzen wir nebeneinander und vermeiden, sie übereinander zu schlagen. Unsere Haltung verrate, mit einem Wort, größte Sammlung. Die Gläubigen erkennen daran, dass wir wirklich beten und an die Gegenwart Gottes glauben. Heutzutage belehren wir Menschen nicht mehr mit schönen Reden und Gedanken. Das hat sich alles abgenutzt in einem Volk, das alles missbraucht hat und an gar nichts mehr glaubt. Man muss die Menschen so behandeln, indem man den Anschein vermeidet, ihren Verstand und Geist belehren zu wollen. Wir appellieren an ihr Gefühl, an ihre Hochachtung, und dahin gelangen wir nur auf dem Weg, den ich aufgezeigt habe. In unseren Gebeten lasset uns also diese äußere Sammlung durch eine tadellose Haltung einhalten. Dadurch stellen wir unseren Herrn dar auf den Berg, im Ölgarten, inmitten seiner Jünger.
Seien wir in unserem Essen ebenfalls Ordensleute. Ich verbiete strikt jene Gewohnheiten, die zurzeit in der Welt im Schwange sind, dass man z.B. sein Messer zum Mund führt, es in der Hand behält und mit Messer und Gabel gestikuliert. Hierin müssen wir durchaus nicht wie alle anderen sein. Wahren wir treu die schönen Formen der alten Höflichkeit. Auch sollen wir bei Tisch nicht gewisse Gewohnheiten annehmen, z.B. die aufgetragenen Gerichte zu beurteilen. Die Weltleute nehmen daran Anstoß, wenn sie uns unabgetötet sehen. Geben wir uns nicht als Kenner von Weinen, Fleischspeisen und jeder Art von Soßen und Gewürzen aus. Was gut ist, dürfen wir für gut finden, aber wir sind keine Feinschmecker. Letzteres heißt es vor allem vermeiden. Die Abtötung, immer etwas Wasser in unseren Wein zu gießen, wollen wir festhalten, es sei denn, wir beleidigen damit unsere Gastgeber, die schockiert wären, wenn sie sähen, dass wir Wasser in Qualitätsweine gießen. In diesem Fall nur und wenn es um die Liebe geht, dispensiere ich von der hl. Regel. In allen übrigen Fällen aber halten wir uns an die hl. Regel, weil sie es so will. Oder gießt der Priester nicht auch etwas Wasser in den Kelchwein? Er tut es, weil es die Vorschrift so will und weil es unser Herr ebenso gehalten hat beim letzten Abendmahl. Tun wir es aus denselben Gründen. Vergessen wir nie die Abtötung bei Tisch, indem wir etwas mehr nehmen von dem, was uns weniger mundet, und umgekehrt. Aber unterlassen wir sie nicht. Meine Freunde, die Praxis, etwas Wasser in den Wein zu gießen, hat auch ihre große Bedeutung. Sagt der hl. Paulus nicht: „Der Wein, in dem die Ausschweifung liegt?“ Gewiss zieht der Missbrauch des Weins große Unordnungen nach sich, die fatale Konsequenzen haben können. Die Neigung, den Geschmack zu befriedigen, den Gaumen durch Speise und Trank zu reizen, geht bald in eine Gewohnheit über, erregt die Aktivität des Blutes und ist eine Quelle von Versuchungen und Fällen. Darum verstehe man mich und vernachlässige diese Abtötung der hl. Regel nicht, um die Fallen des Teufels zu vermeiden, die der hl. Paulus aufzeigt.
In unseren Beziehungen untereinander machen wir doch aus der Praxis der Nächstenliebe einen großen Akt der Überwindung. Die Liebe in der Theorie ist ja eine schöne Sache. Die Praxis hingegen hat nichts Hinreißendes an sich. Die Liebe ist eine der schwersten Abtötungen, die es gibt. Doch die Folgen dieser Liebe sind bewundernswert und köstlich. Ihre Übung freilich ganz und gar nicht. Man übt in der Tat die Liebe auf seine eigenen Kosten, auf Kosten seiner Neigungen, seinen eigenen Urteils, der Tätigkeit seines Geistes, auf Kosten seiner eigenen Natur. Übt darum die Liebe schon während der Exerzitien. Bürdet keinen Teil dieser denen auf, denen ihr gehorcht, nicht euren Mitbrüdern und Untergebenen. Dass ihr doch nur von weitem das Beispiel der Guten Mutter nachahmtet! Während ihres ganzen Lebens konnte ich nicht den geringsten Verstoß gegen die Liebe ausfindig machen, ob Oberinnen, Mitschwestern oder Untergebenen gegenüber.
In diesem Zusammenhang, ich komme darauf noch zurück im Laufe der Exerzitien, wünsche ich, man möge sich jedes abfälligen Urteils über diese oder jene Gemeinschaft enthalten. Hegen wir hier ganz den Geist der Guten Mutter, der ein Geist der Liebe war. Haben wir da unser „Mea culpa“ zu sprechen, so tun wir das aus ganzem Herzen im Angesichte Gottes und fassen wir den Vorsatz, stets das zu achten, was Gottes Eigentum ist. Eines Tages machte ich einige Bemerkungen (über eine andere Gemeinschaft) vor der Guten Mutter, die ich für angebracht hielt. „Ja“, gab sie zurück, „aber geben Sie acht: Jene, von denen Sie da sprechen, tun viel für den lieben Gott.“
Damit diese Exerzitien die Form des Lebens werden, muss diese Abtötung in alle Bereiche unseres Lebens eindringen. Damit ein Regiment gut marschiert und einen guten Eindruck macht, müssen alle Soldaten auf die gleiche Weise gekleidet und ausgerüstet sein und müssen alle auf die gleiche Weise vorwärtskommen und leben. Ein Zuave (Anm.: französischer Infanterist in türkischer Tracht, in Afrika dienend) bewegt sich nicht wie ein Reiter. Seht nur, woran man die Töchter des hl. Franz v. Sales, die Heimsuchungsschwestern, erkennt: Sie haben alle die gleiche Sprache, die gleiche Haltung und die gleichen Manieren, wo sie auch seien und woher sie kommen. Sie haben nämlich alle durch das Direktorium und den Gehorsam eine komplette und abgerundete Ausbildung genossen. Durch dasselbe Formeisen sind sie alle gegangen. Nun sind aber Frauen schwerer zu bilden als Männer. Soweit müssen auch wir kommen. Es muss der Grundsatz gelten: Wo immer ein Oblate spricht oder arbeitet, sollte man unseren Herrn erkennen, Chrysostomos sagt, wenn unser Herr vorüberging, erkannte man ihn, selbst wenn man ihn noch nie gesehen hatte und sagte: „Das ist Jesus von Nazareth.“ Sein ganzes Äußeres, sein Gehabe flößte ein ungeheures Vertrauen ein. Das kam daher, dass in Jesus zwei Gnaden lebten: eine natürliche und eine übernatürliche. Die erste kam von seiner Haltung und seiner Bescheidenheit, die jene sogar ergriff, die ihn gar nicht kannten. „Man fühlte sich einfach hingezogen zu ihm“, sagt dieser Kirchenlehrer. Nicht nur durch seine übernatürliche Gnade, sondern durch die natürliche, mit der er seine Menschheit umkleidet hatte. Seht ihr, so müsste es auch bei uns sein. Dazu müssen wir uns gut bilden in der Schule des Direktoriums und der Abhängigkeit, in einem inneren und äußeren Training. So gelangen wir alle zu einer einheitlichen Form des Betens, Essens und Umgangs.
Ich beschwöre euch und flehe euch an bei der Bescheidenheit Jesu Christi, dass ihr euch alle in diese Bewegung einreiht und nur noch einen Willen, ein Herz und eine Seele bildet. Und ich füge mit dem hl. Paulus hinzu: einen Körper. Ja, ihr solltet selbst in einem einzigen Leib bestehen, der nach dem Bild unseres Herrn gestaltet ist, damit ihr so nur einen Leib und eine Seele mit ihm bildet. Das ist der Abschluss jener Vereinigung unseres Herrn mit uns, die in der Menschwerdung und in der Eucharistie begonnen und in unserer Berufung fortgesetzt wurde.
Das also ist die Hauptübung der Exerzitien, um die wir uns jetzt unmittelbar bemühen wollen. Dieser so praktizierten Abtötung fügen wir als zweites die Aufmerksamkeit auf das göttliche Wort hinzu, das wir ohne Abstriche erfüllen wollen. Aufmerksamkeit zunächst auf das, was ich euch sagen werde. Denn schließlich, was ich euch sage, kommt vonseiten Gottes zu uns. Ja, nicht nur ich spreche zu euch in seinem Auftrag, sondern er selbst spricht da zu euch. Was ich euch vortrage, gehört mir in keiner Weise. Ich bin nicht der Herr darüber, nicht einmal der Treuhänder. Ich empfange, damit ich weitergebe. Es gehört nicht mir, sondern euch. Achtet darum gut auf das, was ich euch da übermittle, und merkt es euch mit einem starken Wollen und Vermögen. Achtet auch auf das, was Gott euch in diesen Exerzitien eingibt im Grunde eures Herzens, damit ihr daraus Nutzen schöpft und diese Tage der Gnaden euch einen Gewinn bedeuten.
Möge unser Herr, der euch zusammengeführt hat, euch segnen. Möge er euch jenes weite Herz schenken, das er Salomon gab, jenes Herz, das über sich hinauswächst, den ganzen Willen Gottes umfängt, den Mitmenschen, alle Ereignisse, alle Zulassungen Gottes. Jenes weite, tiefe, ungeheure Herz, wie weit das Meer, wie die Hl. Schrift sagt. Bringen wir alles zum Schweigen, was von unserer eigenen Sehweise und unserem Eigenwillen kommt. Haben wir doch dieses weite und tiefe Herz, das die größte Gnade ist, die Gott im Alten Bund verliehen hat. Der kostbarste Schatz, den er uns in diesen Exerzitien unter den anderen Gnaden zugedacht hat.
Bitten wir die Gute Mutter, uns zu helfen, diesen Schatz zu erwerben, sie, die en so hochgemutes Herz hatte.