Exerzitienvorträge 1887

      

1. Vortrag: Exerzitien

Am Ende des Heftes, in das die Gute Mutter zu Freiburg für ihre Oberin ihre Rechenschaft über ihre Rechenschaft über ihr Gewissen und ihren Seelenzustand eintrug, lesen wir folgenden Satz: Gott sagte mir, ich muss sein Apostel sein. Dann fährt sie fort: Ich sah nichts mehr, nur der Zustand, in dem ich sein sollte, erschien mir voller Licht und Ermutigung, obwohl dieses Licht mich nicht blendete. Es schien mir, ich ginge unter den Strahlen einer Sonne dahin, die ohne Unruhe von dichten Schatten gedämpft war.

Diese Worte der Guten Mutter: „Ich muss Apostel sein“, möchte ich an den Beginn unserer Einkehrtage stellen. Wir müssen nämlich auch Apostel des Evangeliums, Apostel der frohen Botschaft sein, Apostel des Wortes Unseres Herrn, der Lehren der hl. Kirche, der Lehre des hl. Franz von Sales, der hl. Franziska v. Chantal wie der Guten Mutter. Darin besteht unser Apostolat. Es ist umfassender, wenn ich so sagen darf, als das gewöhnliche Apostolat. Denn letzteres beschränkt sich auf das Apostolat der Wahrheiten der hl. katholischen, apostolischen und römischen Kirche, auf die Wahrheiten der Dogmatik wie der Moral. Wir hingegen haben noch andere Wahrheiten, andere Gewissheiten zu verkünden, eine Doktrin, eine Lehre. Für diese Sendung müssen wir uns bereithalten. Was uns aufgetragen ist, darf uns nicht zwischen den Händen zergehen. Unser Werk muss unsere Vorbereitung darauf gründlich und weitgespannt sein, damit wir die uns anvertraute Arbeit auch vollbringen können. Und unsere Vorbereitung sind diese hl. Exerzitien.

Die Apostel haben sich zu einer Einkehr zurückgezogen, bevor sie die Frohbotschaft verkündeten. Exerzitien sind eine allgemeine Praxis der hl. Kirche. Uns schreibt die hl. Regel alljährlich, vor der Gelübdeablegung wie vor der Einkleidung, diese hl. Übung vor. Exerzitien sind eine wesentliche Vorbereitung auf jedes zu beginnende große Werk. Messen wir ihnen darum eine große Bedeutung bei! Die Umstände, in denen wir uns befinden, beweisen uns, dass Gott ganz besondere Absichten mit uns verfolgt, nicht nur was unsere persönliche Heiligung betrifft, sondern was sich auf die ganze Kirche erstreckt. Die Lehre der Guten Mutter stellt ein Ereignis dar in diesen letzten Zeiten, ein Ereignis von besonderem Gewicht. Was ich von Seiten Roms erlebe, zeigt die Wichtigkeit, die man ihm dort beimisst. Es ist ein Vorspiel dessen, was wir später zu tun haben werden. Es ist ein Wink und Fingerzeig dafür, dass wir uns darauf vorbereiten, um bereit zu sein in dem Augenblick, wo Gott uns rufen wird.

Exerzitien sind somit für uns eine höchst bedeutsame Angelegenheit. Machen wir sie nach den Grundsätzen der Guten Mutter Maria Salesia, nach der sie nichts anderes beinhalten sollen als die getreue Anwendung der Lehre des hl. Franz v. Sales vom Glauben und den guten Sitten. Grundsätze, die sich einzig auf die Lehre Unseres Herrn, des Evangeliums in ihrem klaren, einfachen und natürlichen Sinn ohne weitere Erklärung stützen sollen. Wir sind damit zu einer hohen, ja sehr hohen Mission berufen. Diese Sendung, die uns da anvertraut ist, zieht, ich wiederhole es, die Aufmerksamkeit der hl. Kirche auf sich. Aus den Worten unserer Guten Mutter können wir schließen, dass unsere Sendung einen starken Widerhall auf der ganzen Welt haben und eine große Zahl von Werken hervorbringen soll. Es handelt sich hier um etwas Vollständiges, nicht um eine Teilwahrheit, die sich auf die Übung erstreckt. Es ist eine Gesamtsicht, absolut uneingeschränkt. Die Seele, die sich auf diesen Weg einlässt, ist ganz und ungeschmälert so wie der Herr sie will, ganz entsprechend dem Denken und Wollen unseres Herrn. Sie wird kopieren und reproduzieren, ihm unablässig näherkommen, bis sie schließlich eine Einheit mit ihm bildet und durch ihn eine Einheit mit Gott, seinem Vater.

„Eine gesunde und sichere Lehre“, sagt die hl. Kirche. Sie ist ein Vollkommenheitsmittel im einfachsten und natürlichsten Sinn des Wortes, die vollkommene Sicherheit bietet. Da ist nichts rechts oder links zu suchen, nichts bleibt menschlicher Deutung, Meinung oder Phantasie ausgespart, ganz so wie die Mission, die den Aposteln selbst übergeben wurde. Wir haben eine Ähnlichkeit mit den Aposteln. Als Papst Pius IX. uns zum ersten Mal zu segnen würdigte, sprach er die Worte: „Mein Sohn, du wirst den Segen der Urkirche haben.“ Wir sind es nicht mehr gewohnt, die Worte des hl. Vaters als etwas Gewöhnliches (wohl Druckfehler: als etwas Ungewöhnliches?) zu nehmen, besonders wenn sie mit Majestät und Feierlichkeit gesprochen wurden wie diese da. Bewahren wir diesen Segen! Wir müssen uns ganz eng an die katholische Kirche halten: wir besitzen den Segen der Apostel, den Segen der Anfänge.  Lesen wir die Apostel, die Briefe des hl. Apostels Paulus, durchdringen wir uns gut mit diesen Dingen. Wir dürfen uns nicht davon entfernen. Was der hl. Paulus in seinen Predigten sagt, was Gott ihm eingegeben, die inneren Entsprechungen, die er ihm ins Herz gelegt hat. Was der hl. Petrus zu den anderen Aposteln, zu den Gläubigen sprach, was Johannes uns vom Umgang der Seele mit dem Wort Gottes (Jesus), von der Liebe zum Nächsten, die Lehren, die er an die Kirchen von Ephesus und Antiochien richtet: all das ist unser Eigentum, all das ist gut, ist der Punkt, von dem wir ausgehen, ist unser Segen. Suchen wir ihn da, wohnen wir inmitten der Apostel! Das tun wir nicht aufgrund unserer Tugenden, Verdienste oder Würdigungen. Weit davon entfernt… sind wir doch die zuletzt Gekommenen, unser Platz ist der letzte und geringste. Bleiben wir folglich auch die letzten in unserer Achtung und Meinung. Das vorausgesetzt, stoßen wir in aller Bescheidenheit zu diesen großen und erhabenen Gestalten der Urkirche vor. Hegen wir die gleiche Gesinnung wie der hl. Timotheus, der hl. Ignatius, der hl. Dionysius. Gewiss haben wir nicht die Zeit, ihre Werke zu lesen. Halten wir uns dennoch an die eng an ihre Lehren und werden wir ihnen gleich. Wir leben in einem glaubensschwachen Jahrhundert. Der Glaube schwindet, die christlichen Sitten, die kirchlichen Gebräuche verfallen. Das Böse wächst auf eine erschreckende Weise. Ist es die Schuld der Christen, der Priester, der Ordensleute? Gott bewahre mich davor, dies zu behaupten. Wenn die Welt vom Bösen überschwemmt, die Luft davon angefüllt ist, woher die hinreichende Kraft und Energie nehmen, dem Einfluss unseres Milieus nicht zu erliegen? Um wirksam zu reagieren, müssen wir die Apostel, müssen wir selbst echte Apostel werden, müssen reden, denken und handeln wie sie. Deswegen brauchen wir noch lange nicht großartige, eigenartige und komische Menschen zu werden. Brauchen nicht darauf zu pochen, besser als die anderen zu denken und zu handeln. Gehen wir ganz einfach voran, schreiten wir dem Licht entgegen, wie die Gute Mutter sagte, jenem Licht, das nicht blendet und dessen Glanz niemandem schadet. Gehen wir einfach und in kleinen Schritten, aber mit hohem Mut dahin.

Wir haben keine Seelsorge auszuüben, sind keine Pfarrer, wir sind vielmehr Ordensleute wie die anderen. Ohne das wären wir in der Kirche Gottes nichts. Wir sind nichts aus uns selbst. Wir können aber etwas werden, wenn wir uns den Aposteln nähern, wenn wir ihre Lebensweise, ihr Wort und ihre Art zu sprechen und zu tun annehmen. Noch einmal, suchen wir nicht den Menschen in uns, nichts was uns selbst befriedigt. Halten wir uns frei von den gängigen Ideen, von den Zeitungen und Büchern. Zu all dem sollen wir Distanz halten. Schließen wir uns wie die Apostel eng an unseren Herrn an. Mag die Welt sich aufregen und den Boden verlieren, die Ideen sich wandeln:  was ficht uns das an? Bleiben wir, was wir sind, und nehmen wir keine Sonderlichkeiten und Eigentümlichkeiten an. Unsere Stärke liegt in unserem Herrn und in seiner Gnade. Nur ein Wunsch sollte uns leiten: mit denen zusammen zu leben, die für uns zuständig sind: die Apostel und unser Herr.

Begreifen wir wohl die Wichtigkeit der Exerzitien! Alles, was ich von Seiten erfahre, ich kann es sagen, weil wir unter uns sind, was ich von überall her erfahre, beweist mir, wie dringend wir der Exerzitien bedürfen. Keiner von uns ist auf der Höhe seiner Aufgabe, keiner hat sich zu dieser Höhe aufgeschwungen, ich noch weniger als jeder andere. Ohne Zweifel: hätte ich meine Pflicht besser erfüllt, wäre ich gelehriger gewesen, dann wäre ich ein treueres und vollkommeneres Werkzeug der Guten Mutter gewesen. Ich bin der Hauptschuldige, dafür bitte ich Gott um Verzeihung. Wenn ich euch sage, ihr seid nicht auf der Höhe eurer Aufgabe, mache ich euch keine Vorwürfe. Wir haben alle genug zu tun, um unserer Berufung treu zu entsprechen. Seien wir keine kraftlosen Wesen, nebeneinandergesetzte Steine, die das ganze Gebäude zum Einsturz bringen. Menschen, die gerade das tun, was man ihnen sagt, aber nicht die Notwendigkeit spüren, zusammenzustehen und sich mit dem zu identifizieren, der sie führt. Wer kann das bewerkstelligen? Ich nicht. Es ist die Gnade Gottes und unser Herr selbst. der der Beweger und Vollender dieses Werks sein wird.

Erbittet das von Gott während der Exerzitien. Was tun, um ihn darum zu bitten? Betet! rät man. Doch nicht jeder, der will, betet auch schon. Den lieben Gott darum bitten… das ist ganz schön. Wenn die Traktate der Theologie von den Tugenden sprechen, stellen sie diese Frage bezüglich jeder Tugend: Durch welches Mittel erwerben wir diese Tugend? Durch das Gebet. Womit bekämpfen wir die Sünde? Durch das Gebet. Immer das Gebet. Das natürlich wahr, aber schließlich nicht alles. Auch kann man nicht immer beten. Nicht jeder, der möchte, kann es auch schon. Ich möchte diese Theologie berichtigen: Man kann nicht immer beten, wann man will, jenes Gebet verrichten, das wahr und wirksam ist und das bewirkt, worum man betet. Was wir tun können, um Gott zu bewegen, dass er zu uns herabsteigt vom Himmel, ist, dass wir selbst etwas tun. Beginnen wir wie Jesus: „Er begann zu handeln und zu lehren.“ Unser Herr hat gleich mit dem Tun begonnen. Auch er konnte mit Gebet anfangen. Doch hat er zuerst Hand angelegt.

Beginnen wir also diese Einkehrtage, wie Jesus es tat: halten wir pünktlich und exakt die hl. Regel, das Direktorium, verbringen wir Tage der Treue, mit einem Wort: Tun wir etwas! Beten kann man nicht immer, aber handeln: beim ersten Glockenschlag da sein, das Offizium mit Aufmerksamkeit rezitieren, während der ganzen Zeit der Betrachtung durchhalten, beschäftigen sein, wie wir noch ausführen werden. Sein Direktorium kann man immer beobachten, kann Tage der Treue verbringen. Ihr findet nicht die rechte Gebetsandacht, das tut nichts. Gott verlangt es nicht. Gebt dafür euer Tun. Freilich, entspringt dieses Tun, ich sage hier eine Unmöglichkeit, ausschließlich der Absicht, für fromm zu gelten, damit eurem Novizenmeister oder eurem Oberen zu imponieren, dann wäre es ein Hohn, eine Lüge. Davon spreche ich hier nicht, das wäre nicht das „er begann zu handeln“. Ich spreche vielmehr von einem aufrichtigen, großmütigen Akt, der aus einem festen und entschlossenen Willen erfolgt. Verbringt also die Tage der Treue während dieser Einkehrtage, dann gibt euch Gott die Erleuchtung.

Noch einmal: Wendet euch an Gott weniger mit Gebet als mit Taten. Nicht jene, die sagen: „Herr, Herr“, gehen ins Himmelreich, in ihre Berufung, der Wille Gottes, das ist unsere Glückseligkeit, unser Paradies. „Es lohnt sich wahrlich nicht, in den Himmel zu gehen“, sagte ich manchmal zur Guten Mutter. „Sagen Sie das nicht, das würde Ärgernis erregen!“ – „Aber, Gute Mutter, ist man denn nicht ebenso glücklich wie im Paradies, wenn man tut, was Gott von uns verlangt, wenn man sein vollbringt? Das ist doch ein besserer Himmel für uns als das Paradies, da Gott will, dass wir hier sind und nicht im Paradies!“

Schleppen wir doch nicht die Krücken unserer Erbärmlichkeiten hinter uns her, die Lumpen unserer Armseligkeiten und Feigheiten! Stellen wir uns also in unseren freien Augenblicken vor Gott hin, arbeiten und beten wir, denken wir über die uns anvertraute Mission nach. Ich könnte den Gedanken unserer Sendung ausführlich erörtern. Erbittet es von Gott, sie gut zu verstehen, zu begreifen auch, dass man das Direktorium und die Übungen der Exerzitien ernst nehmen muss. Diese hl. Tage erwirken uns selbst die Gnaden, die wir für gute Exerzitien brauchen, denn diese Übungen sind Sakramentalien. Sucht das zu verstehen und auch anderen begreiflich zu machen. Verschafft euch eine solide Grundlage, einen Vorrat von Lehren, nicht mit schönen Überlegungen und Gedankenspielen. Heizt nicht künstlich eure Phantasien an, wenn ihr Exerzitienvorträge halten müsst. Haltet euch an das, was gut ist, an das Gute. Der größte Kirchenlehrer wird Exerzitien machen wie der kleinste Hirte inmitten seiner Felder: sie suchen keine außergewöhnlichen Dinge. Macht eure Exerzitien mit den Dingen der Exerzitien, und lehrt auch andere, es so zu halten.

Möge unser Herr, der uns durch seine Gnade zusammengeführt hat, selber unser Führer sein. Möge sein Wort uns erleuchten, unser Herz erwärmen. Hören wir aufmerksam darauf! Möge das Glockenzeichen für uns die Stimme Gottes sein! Das Direktorium, die Betrachtung, die Müdigkeit, die Langeweile, der Widerwille gegen die Exerzitien, all das ist für uns der Herr: „Er ist der Herr!“ Als Petrus im Boot während der Finsternis glaubte, es sei ein Geist, der sich ihm nähere, sagte der Lieblingsjünger: „Es ist der Herr!“ Er hatte ihn erkannt. Erkennen auch wir ihn in den Übungen der Exerzitien und in ihren Mühen. Begrüßen wir seine Gegenwart und verweilen wir in ihr.