9. Vortrag: Gehorsam und Armut.
Der Lohn des Gehorsams. Heute Morgen habe ich euch nur die schwierige Seite des Gehorsams angedeutet: das Opfer; heute Abend will ich von seinem Lohn sprechen. Alle Meister des Ordenslebens haben uns sehr schöne Gedanken und Betrachtungen über die Vorteile überliefert, die uns der Gehorsam einbringt. Die klösterlichen Annalen sind reich an wunderbaren Vorkommnissen, an reizenden Legenden, die beweisen, wie Gott schon auf Erden den großmütigen und vollständigen Gehorsam lehrt.
Klösterliche Legenden. Zum Beispiel jener Mönch des hl. Benedikt, der vom Glockenzeichen am Ende des Essens überrascht wurde. Er hatte, wie es die Regel vorschrieb, mit der Hand die Brotkrumen vom Tisch sorgsam gesammelt und hatte nicht mehr vor dem Zeichen zum Dankgebet die Zeit, sie in eine Ecke seines Tellers zu legen. Er behält sie in der Hand und folgt den Mitbrüdern in die Kapelle. Dann klagt er sich über seine Verstoß gegen die Regel an, öffnet die Hand: die Brotkrumen waren zu Perlen geworden, die man in Kirchengewänder einnähte.
Oder die Legende vom Goldgelb der Kirchenfenster, das alle Glasmaler des Mittelalters vergeblich zu entdecken suchten. Ein Glasmaler, der Mönch war, versuchte im 16. Jahrhundert, über seinen Schmelztiegel gebeugt, ihr Geheimnis zu lüften. Die Glocke läutet, der Mönch geht fort. Das Silberkreuz, das er am Hals trägt, fällt in den Schmelztiegel. Er hält sich nicht auf, um es herauszunehmen. Als er zurückkommt, findet er es geschmolzen: aber es hatte die Mischung gefärbt und das Goldgelb war entdeckt.
Oder jener Mönch, der an einem Buchdruck zeichnet: noch einige Striche, und sein Werk wäre fertig. Da läutet die Glocke, er verlässt alles und als er bei der Rückkehr seinen Pinsel nehmen will, ist der Zierbuchstabe vollendet und so schön gelungen, dass viele kommen, um ihn nachzuahmen.
Der Gehorsam verleiht Frieden. Wahrscheinlich wiederholen sich diese Wunder nicht bei uns, aber, was noch besser ist, wir erlangen den Frieden, den uns der hl. Stifter wünscht und den der hl. Paulus den Philippern verspricht: „Und der Friede, der jede Vorstellung übersteigt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!“
Der Friede Gottes bewahrt den Verstand und das Herz. Wer ihn verspürt, steht über und jenseits aller Freude und Sinnenlust. Dieser Friede behütet den Verstand, der im Begriffe war, sich zu verirren. Man trägt euch etwas auf, was euer eigenes Urteil verletzt. Es bäumt sich auf, sich wie eine aufgewühlte Woge am Fels des Gehorsams zu brechen. Lasst es geschehen, der Friede Gottes wird zurückkehren, alles beruhigen und erleuchten.
Die Armut. Worin besteht sie? Wir kommen damit zum zweiten Gelübde des Ordensmannes.
Durch das Gelübde der Armut ist der Ordensmann wie tot, tot für die Welt und die Güter dieser Welt, kann er doch nichts annehmen und nichts schenken. Er besitzt nichts zu Eigen.
Die Kirche ist in diesem Punkt der Ordenssatzungen sehr streng, obwohl gewisse äußere Eigentumsakte infolge der bürgerlichen Gesetze zugelassen werden müssen. In unseren ersten Satzungen hatten wir mit aller möglichen Sorgfalt diese Frage der klösterlichen Armut abgefasst. Unsere Satzungen wurden aber zurückgeschickt, begleitet von einem Kapitel, in Latein abgefasst, das in den Text einzufügen war, und dies Kapitel ging auf alle Einzelheiten des Gelübdes der Armut ein. Es übertraf an Strenge unsere Vorschläge. Heute schreibt die Kirche diese Einzelheiten allen Kongregationen vor, die Armutsgelübde ablegen.
Die Übung der Armut. Zunächst müssen wir uns von jedem Eigentumsakt enthalten. Dieses Gelübde brechen würde eine schwere Sünde bedeuten. Und dann heißt es wirklich arm sein:
In der Nahrung. Wir haben auf diesem Gebiet keine außerordentlichen Verzichte zu leisten. Die Benediktiner der Abtei Pierre-qui-vire legten ihre Ordensregel Papst Pius IX. vor, der dazu bemerkte: „Diese Regel ist für die Engel gemacht, nicht für Menschen!“ Und er milderte einige übertriebene Strengheiten für solche, die sich dem Predigtamt widmeten. Nehmt die Nahrung an, die man euch gibt. Und vergesst nicht die Abtötung, die die Regel vorschreibt. Tut immer etwas Wasser in euren Wein. „Das ist doch bereits drin“, werdet ihr mir sagen. Aber fürchtet nicht, noch etwas hinzu zu schütten. Bei einem Gastmahl setzt man euch feine Weine vor; Wasser zuzufügen hieße, den Gastgeber beleidigen, der euch geladen hat. Unterlasst es also und verzichtet ein wenig auf anderes.
In der Kleidung. Unsre Kleider seien sauber, aber nicht elegant. Unser Äußeres zeuge von Einfachheit. König Philipp von Spanien empfing eines Tages einen jungen Ordensmann zur Audienz, der elegant gekleidet, kleine, feine Schuhe trug. Er wollte sich beim König über einen Herrn beklagen, der in den Wäldern des Klosters jagte, Weintrauben abschnitt und die Ernte plünderte. „Ja, dieser Herr ist böse“, antwortete der König, „aber sicher hat er auch eure Gerberei ausgeplündert und euer Leder gestohlen. Ich verzeihe ihm alles, außer, dass er euch kein Leder gelassen hat, sodass ihr eure Schuhe mit kräftigem Leder bedecken könntet.“ Der Ordensmann verstand die Lektion und ging von dannen.
In der Möblierung eurer Zellen. Ihr sollt ein Bett haben, ein oder zwei Stühle, einen kleinen Tisch, ein Regal für einige Bücher, ein Kreuz, einige fromme Bilder; das genügt. Pater Latour sagte mir nach seinem Besuch in der Großen Kartause: Was ihn dort am meisten gerührt habe, sei die Armut in der Ausstattung in den Zellen der Mönche gewesen.
In euren Häusern. Eure Häuser seien nach Kapuzinerart gebaut. Empfinden wir Scheu, in herrlichen Häusern zu wohnen: nur keinen Luxus! Die Zimmer, in denen man Besuche empfängt, das Sprechzimmer, das Verwaltungsbüro, können etwas mehr geschmückt sein. Übrigens brauchen wir nur fortzusetzen, was wir bislang in dieser Hinsicht getan haben. Vor einigen Wochen ließ ich den Herrn de Bellaing unser kleines Kolleg besichtigen. Ich öffnete im Gang die Tür einer Zelle. Da fiel der Herr de Bellaing auf seine Knie und sagte mir ganz bewegt: „Das ist so recht die Zelle eines Ordensmannes.“
Erbitten wir von unserm Herrn den Geist der Armut. Nehmen wir die hl. Familie von Nazareth zum Vorbild, dann werden wir echte Ordensleute sein.