10. Vortrag: Die hl. Keuschheit
Die Grenzen des Gelübdes der Keuschheit. Es ist unser 3. Gelübde. Die strikten Grenzen dieses Gelübdes fallen zusammen mit den Grenzen und Enthaltsamkeit jeder christlichen Seele. Es schließt eine doppelte Verpflichtung ein: eine Standespflicht, weil man auf die Ehe verzichtet; eine Gewissenspflicht, weil man die Verpflichtung eingeht, auf jedes unerlaubte Vergnügen zu verzichten. Und dieses Versprechen erweitert die Verpflichtung, die das 6. und das 9. Gebot Gottes uns bereits auferlegt.
Es gibt keinen religiösen Orden ohne Keuschheitsgelübde, und keine Kongregation kann ohne dieses Gelübde gegründet werden.
Die Vorbeugungsmittel, einst und jetzt. Die alten Meister des geistlichen Lebens sowie der alten Orden befürworteten strenge und vorbeugende Maßnahmen. Nähme man diese Maßnahmen wörtlich, könnten sie heutzutage Gefahren heraufbeschwören. Sie waren früher gut, doch die Zeiten und die Sitten haben sich geändert. Die Vorsichtsmaßnahmen, mit denen man einst die hl. Keuschheit umgab, gleichen in etwa den Burgen des Mittelalters mit ihrem ganzen Drum und Dran an Gräben, die übrigens nicht immer von großem Wert waren, von Zugbrücken, Eisenketten, Schießscharten: All das waren eher Verteidigungsanlagen der Fantasie als der Wirklichkeit. So ähnlich steht es in etwa mit der Vorsichtsmaßnahme der Alten. Versteht mich wohl: damals waren sie notwendig. Um diese hl. Tugend zu bewahren, trennte man sich von der Welt, vollzog einen Bruch mit ihr. Das passt nicht mehr für uns. Diese rigorosen, im Voraus getroffenen Regeln, diese vorbeugenden strengen Maßnahmen wären heutzutage – das Wort ist nicht übertrieben – gefährlich im Anbetracht der täglichen Kontakte, die Priester wie Ordensleute heute zwangsläufig mit der Welt unterhalten müssen.
Übrigens lehrt der hl. Thomas, Gnaden würden uns im gegenwärtigen Augenblick nicht für die zukünftige Gelegenheiten gegeben, wo wir sie brauchen werden. Die Gnade wird nie ohne Notwendigkeit verliehen.
Der erste Schutz ist die Demut. Die Demut erhält alles von Gott, der Stolz verliert und verdirbt alles. Wessen sollten wir uns denn rühmen? Unserer Heiligkeit? Nun, die kennen wir ja. Unserer Fähigkeiten, unserer Intelligenz? Ich hörte die Gute Mutter oft zu Schwester Salesia de Bellaing sagen: „Sie haben Fähigkeiten, meine Schwester; der Teufel hat aber mehr.“ Gott hat ihm nichts von seinen Fähigkeiten und von seiner Intelligenz weggenommen. Wo bist Du, Luzifer, schöner Stern, der du dich am Morgen erhobest? Wo bist du mit deiner schönen Intelligenz und deiner höchsten Autorität?
Der zweite Schutz: die Gelegenheiten fliehen. Sodann muss man die Gelegenheiten zur Sünde meiden selbst die entfernten: man darf sich nicht der Gefahr aussetzen; aber auch hier ohne Heuchelei und Zurschaustellung. Einst gehörte das zur kirchlichen Erziehung, eine vernichtende Miene zur Schau zu tragen und strenge Augen zu machen, sobald man sich in Gegenwart von Frauen befand. Darüber kann man nur lachen. Sind die Personen, mit denen ihr zusammentrefft, gar bösartig, dann gäbe das Anlass zu bösen Verdächtigungen. Gottdank geschieht das heutzutage kaum mehr. Unser hl. Stifter will, dass wir ganz einfach zu ihnen gehen.
Der dritte Schutzwall: Unser Direktorium. Was haben wir mit unserem Direktorium schon zu fürchten? Denken wir nicht zu jeder Stunde des Tages an den Tod? Was gibt es aber Wirksameres gegen die Versuchung, als den Tod? Der Gedanke an den Tod kühlt ab wie Asche.
Was haben wir schon zu fürchten mit der Guten Meinung? Wir gehen dahin, wohin unser Priesterdienst oder der Gehorsam uns rufen. Tragen wir denn den Heiland nicht mit uns? Was gibt es in seiner Gesellschaft, was uns Furcht einjagen könnte?
Verhalten in den Versuchungen und im Zweifel: Eröffnung dem Beichtvater gegenüber.
Wird man denn in der gegenwärtigen Versuchung und in Zweifelsfällen oder in innerer Unruhe etwa Theologen und theologische Systeme befragen und die Schwere des wahrscheinlichen Fehlers abwägen und diskutieren? Nein, geht vielmehr gleich zum Beichtvater und wartet nicht 8 oder 14 Tage damit… „Mein Beichtvater ist aber beschäftigt; er wird mich nicht verstehen,…er wird streng sein…“ Das ist nicht wichtig! Es bleibt uns nur dieses Mittel, die einfache und vertrauensvolle Eröffnung, dann wird euch Gott wieder frei machen. Wieviele Seelen haben Vorzugsgnaden verpasst und sich selbst zugrunde gerichtet, weil sie sich nicht eröffnen wollten.
Und wenn euer Beichtvater euch falsch versteht, umso besser! Ihr werdet umso mehr Gnaden erhalten, und Gott teilt euch unmittelbar mit, was der Beichtvater euch nicht gegeben hat.
Wozu übrigens so viel Überlegungen um die Person des Beichtvaters? Habt ihr Glauben oder nicht? Wenn wir zur hl. Kommunion gehen, zweifeln wir dann auch an der Gnade des Sakraments? Nein, unser Glaube ist lebendig. Gehen wir aber zur hl. Beichte, müssen wir dann mehr Zweifel haben über die Gnade des Sakramentes? Ist es im einen wie im andern Fall nicht Jesus Christus, der uns diese Gnade mitteilt? Die Person, die uns als Mittler dient, sowie die Mittel, die er uns anrät, sind von geringer Bedeutung.