1. Vortrag: Über den besonderen Charakter der Oblatinnen des heiligen Franz von Sales
Montag Vormittag, 8. September 1879
Meine Kinder, zu Beginn dieser Exerzitien muss ich euch sagen, dass das Werk, das ihr in Angriff nehmt, sehr wichtig ist, denn ihr wollt nicht nur euer Heil erwirken, noch wollt ihr nur Nonnen sein, sondern ihr wollt Oblatinnen des heiligen Franz von Sales sein. Das heißt: Durch eure Handlungen, durch euer ganzes Leben wollt ihr fortsetzen, was der heilige Franz von Sales machte, als er auf Erden war. Ihr müsst beten, wie er betete, mit dem lieben Gott vereint sein, wie er es war, mit einem Wort, ihm in eurer ganzen Seinsweise gleichen, die Würde seines Äußeren, seine Milde, seine Uneigennützigkeit in seinen Beziehungen zum Nächsten, seinen Frieden, seine große Liebe haben. Aber das ist noch nicht genug. Ihr wollt diesen Geist in euch haben, zunächst für euch, und dann, um ihn durch das gute Beispiel in den Beziehungen zu vermitteln, die ihr mit den Kindern und allen Personen haben werdet, die mit euch zu tun haben werden. Das ist also euer Programm: den heiligen Franz von Sales so vollkommen nachahmen, dass man ihn nicht nur in eurer Person wiederfindet, sondern auch in der Gnade und dem Licht, die ihr empfangen werdet, um sie den anderen mitzuteilen. Um das zu suchen, seid ihr gekommen, als ihr hier eingetreten seid. Es ist nicht mehr und nicht weniger, es ist genau das.
Meine Kinder, hört gut zu, was ich euch sagen werde. Ihr seid berufen, ein wunderbares Vorbild nachzuahmen, einen der Heiligen, die unseren Herrn und die heilige Jungfrau am besten nachahmten. Wenn ihr euch nicht fähig fühlt, zu dieser Höhe zu gelangen oder wenigstens mit all euren Kräften dorthin zu streben, seid ihr nicht in eurer Berufung, seid ihr nicht berufen, den Charakter unseres seligen Vaters [Franz von Sales] auf Erden neu erstehen zu lassen. Denn, ich wiederhole es, als Oblatinnen des heiligen Franz von Sales ist es eure Aufgabe, in all eurem Tun, in eurer Art zu sein und zu handeln, dem heiligen Franz von Sales ähnlich zu sein. Das ist die Absicht der heiligen Kirche mit euch. Als einer meiner Freunde nach Rom reiste, hatte ich ihm eine Botschaft anvertraut, er möge unseren Heiligen Vater, Papst Pius IX. bitten, das Werk, das ich unternahm, zu segnen. Nun schickte mir der Heilige Vater diesen Segen durch ein Breve, in dem er mir versicherte, dass er uns nicht nur segnet, sondern er lobte auch sehr das unternommene Werk und, was ich mache, sei sehr nach seinen Gedanken und nach seinem Herzen. Durch diese Antwort des Heiligen Vaters, meine Kinder, wurden die Oblatinnen des heiligen Franz von Sales gegründet.
Waren wir immer einer solchen Beachtung des höchsten Pontifex würdig? Wenn eure Vollkommenheit nicht so ist, wie sie sein soll, wenn ihr nicht das Siegel unseres seligen Vaters [Franz von Sales] tragt, seid ihr nichts. Versteht das gut. Ihr müsst zu euch selbst sehr streng sein, sehr großmütig, um sich nichts außerhalb dieses Geistes zu gestatten. Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, wie sollen wir tun, was wir nicht kennen? Denn heute weiß man in der Welt nicht nur nicht mehr, was das Ordensleben ist, sondern man weiß fast nicht mehr, was es bedeutet, Christ zu sein.“ Wohlan, meine Kinder, da ihr Nonnen und sogar Oblatinnen des heiligen Franz von Sales sein wollt, werdet ihr es während dieser Exerzitien lernen. Ihr werdet verstehen, was ihr tun müsst, und mit der Gnade Gottes werdet ihr den Mut haben, es zu erfüllen.
Es genügt nicht, dass ihr unserem seligen Vater [Franz von Sales] in eurem Äußeren nachahmt. Ihr müsst ihn vor allem in eurer Seele, in euren Gedanken und Gefühlen nachahmen. Er war nicht nur Ordensgründer, sondern Kirchenlehrer, und alles, was er sagte, bildet eine Lehre, in die ihr einsteigen sollt. Wenn ihr gut auf die innere Stimme des lieben Gottes hört, wenn ihr im Lauf dieser Exerzitien sehr aufmerksam auf mein Wort seid, werdet ihr das Licht empfangen, und das ist viel! Ja, der liebe Gott wird euch das wahre Licht schenken, und mit Hilfe dieses Lichtes werdet ihr zur Vollkommenheit eurer heiligen Berufung gelangen, vorausgesetzt, dass ihr euch bemüht, ihr mit großer Demut zu folgen. Selig werdet ihr sein, wenn ihr alle Kleinigkeiten macht, denn dann wird der liebe Gott aus euch etwas Großes machen, und ich werde ihn dafür preisen. Wenn ihr nur wüsstet, was es bedeutet, dem lieben Gott zu dienen, ihm zu gehören, mit ihm nach dem Geist des heiligen Franz von Sales zu handeln! Ich habe gut verstanden, was es bedeutet, als ich unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis und Schwester Marie-Geneviève sah. Die Schwestern des Heimsuchungsklosters arbeiten immer in diesem Sinn. Ich vergleiche euch nicht mit ihnen, aber das ist, was auch ihr nachahmen sollt, und man gelangt da nicht beim ersten Mal dorthin, man muss lange daran arbeiten.
Wenn ein Gründer eine Ordensgemeinschaft errichtet, hat er ein besonderes Ziel. Als ich die Oblatinnen des heiligen Franz von Sales gründete, wollte ich weder Schwestern von der Göttlichen Vorsehung noch Barmherzige Schwestern gründen, da diese Kongregationen bereits bestehen. Sie sind sehr gut und sehr viele Seelen finden dort, was sie brauchen. Wenn ich Oblatinnen des heiligen Franz von Sales gegründet habe, so deshalb, um Oblatinnen des heiligen Franz von Sales zu haben und nichts anderes. Es geht nicht darum, Töchter zu haben, die ein Ordenskleid anziehen, um sich von den anderen Frauen zu unterscheiden. Es gibt schon genug Ordensfrauen. Ihr seid also nicht gegründet, um ihre Zahl zu vergrößern, sondern um einem besonderen Willen Gottes zu entsprechen. Ich stelle keinen Vergleich an, ich beanspruche nicht zu sagen, dass ihr besser seid als die anderen, im Gegenteil, ich behaupte, dass ihr, wenn ihr nicht seid, was ich sage, weit unter allen anderen Nonnen seid.
Ihr kennt die Geschichte von diesem Einsiedler, der mit achtzig Jahren alle kennenlernen will, die ihm vor dem lieben Gott an Verdiensten gleichen. Der Herr sagt ihm bei der Betrachtung, er solle nach Alexandrien gehen. Dort werde er ihm zwei Personen zeigen, die in der Tugend ebenso vollkommen sind wie er. Der Greis nimmt seinen Stab und wendet sich der Stadt zu, wo eine innere Stimme ihm sagt, die Straße zu nehmen, die zum Palast des Kaisers führt. Als er an einer Tür vorbeigeht, hört er, wie die Stimme ihm sagt: „Hier ist es.“ Der Einsiedler klopft an, eine Frau öffnet ihm. Er fragt sie, ob sie in diesem Haus wohne. Sie bejaht und lässt den Greis eintreten, der sogleich beginnt, sie zu befragen. Sie teilt ihm mit, dass sie dort zusammen mit ihrer Schwester lebt, und dass ihre Ehegatten Beamte sind. Die innere Stimme sagt dem Einsiedler: „Das sind die zwei Personen, die dir in der Vollkommenheit vor Gott vollkommen gleich sind.“ „Was macht ihr für den Dienst Gottes?“ fragt nun der Einsiedler. „Welche Tugenden übt ihr? Macht ihr lange Betrachtungen?“ „Nein!“, antwortet die Frau, „wir haben unsere Beschäftigungen, die den ganzen Tag in Anspruch nehmen; wir sparen uns nur einige Augenblicke für das Gebet auf.“ „Macht ihr Abtötungen?“ „Nein, aber wir versuchen, unsere Standespflichten bestens zu erfüllen. Wir haben uns ein Gesetz gegeben, nie Schlechtes vom Nächsten zu sagen, und wir halten dieses Versprechen. Dann empfangen wir aus der Hand Gott die Schwierigkeiten und Prüfungen.“ Der erstaunte Einsiedler hatte die positive Einsicht, dass diese beiden Frauen vor dem lieben Gott ebenso viel waren wie er. Und als er zu seinen Mönchen zurückkehrte, sagte er zu ihnen: „Ah, meine Brüder, wo stehen wir, wenn wir glauben, in den Augen Gottes etwas zu sein, weil wir als Einsiedler leben? … Unsere Berufung verdanken wir nicht uns, sondern Gott, und wir werden vor ihm nur einen Verdienst haben, wenn wir durch eine treue Einheit unseres Willens mit seinem dem entsprechen, was er von uns erwartet.“
Meine Kinder, es ist eine riesige Gnade, zum Ordensleben berufen zu werden, aber damit es einträglich ist, müsst ihr ganz machen, was eure Berufung, was in eurem Geistlichen Direktorium vermerkt und verlangt ist. Man muss in euch finden, was der liebe Gott will, dass ihr seid. Nun, ihr wisst, was er von euch will, nämlich dass ihr möglichst genau das Vorbild nachahmt, das ihr in eurem seligen Vater [Franz von Sales] habt.
Ich werde also während dieser Exerzitien von den Pflichten sprechen, die ihr werdet erfüllen müssen. Die Gnade des lieben Gottes wird mit euch sein, und unser Herr wird euch mit dem Licht den guten Willen geben.
Wir werden den heiligen Franz von Sales bitten, diese Exerzitien mit uns zu machen, uns zu lehren, wie er sie selbst machen würde. Er wird es uns gutmütig sagen, wie er eines Tages Schwester Claude-Simplicienne erklärte, was er machen würde, wenn er an ihrer Stelle wäre, wie er die kleinsten Regeln des Ordenslebens üben würde.
Verstehen wir diese Dinge gut, meine Kinder, und der liebe Gott wird uns die Gnade schenken, sie auszuführen. Amen.