Undatierter Vortrag von P. Louis Brisson aus dem Jahr 1875?/1876?.
(Anm.: „Auszug aus zwei Vorträgen unseres ehrwürdigen Vaters, die P. Rollin ohne Datum niedergeschrieben hat.“)
Der Geist der Oblaten des hl. Franz v. Sales
I. Alle Orden haben etwas Gemeinsames sowie etwas, was jedem eigen ist. Gemeinsam haben sie die drei Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit. Eigen dagegen ist ihnen ihr spezieller Geist. Die verschiedenen Ordensleute der Kirche bilden eine einzige große Familie. Ohne ihren besonderen Ordensgeist wären sie keine Orden oder Kongregationen. Die Praxis der drei Ordensgelübde macht den Ordensmann aus. Der eigene Geist hingegen verleiht den Kongregationen Bestand und Leben.
Der Geist, der in jeder Kongregation weht, ist verschieden. Bei den einen ist es die vollkommene Armut, bei den anderen der Seeleneifer. Bei den einen das strenge Bußleben, bei den anderen die Beschauung. So müssen also auch die Oblaten ihren eigenen Ordensgeist haben. Dieser kann aber nicht die Frucht der Spekulationen ihres Gründers sein. Es ist vielmehr ein ganz und gar vorgegebener Geist, nämlich der des hl. Franz v. Sales. Man darf nicht glauben, dieser Geist finde sich nur in den Schriften des Heiligen, und es genüge, um sich diesen Geist anzueignen, sich mit diesem Geist aus seinen Schriften zu durchdringen. Gewiss lebt der Geist des hl. Franz v. Sales in all seinen Schriften. Doch nicht nur das, er findet sich, mit anderen Worten, im Orden der Heimsuchung. Der Geist, so sagt der hl. Gründer, ist ein Geist der Demut gegenüber Gott und der Sanftmut gegenüber dem Nächsten.
Dieser Geist hat seine volle Ausprägung gefunden in der Mutter Maria Salesia. Das garantiert uns nicht nur ihr heiliges Leben, sondern auch das Zeugnis des ganzen Institutes, das in ihr das Werkzeug Gottes gesehen und erkannt hat. Desgleichen das Zeugnis einer großen Zahl von herausragenden Persönlichkeiten, die sie erkannt haben, vieler Bischöfe und unseres Hl. Vaters selber: Beweis dafür ist der wohlwollende Empfang, den er unserem Vater (Anm.: „Brisson“) bereitet hat, indem er von dieser hl. Mutter sprach. Dieser Geist der Demut gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selbst nahm bei ihr den Charakter einer vollkommenen Vereinigung mit Gott an, einer ganz innigen und unauflöslichen Vereinigung mit Gott.
Dieser Geist verwirklichte den Wunsch des hl. Gründers, der einen Orden errichten wollte, der kein anderes Band habe als das der Liebe: das aber versetzt die Seelen in einen Zustand der Vollkommenheit und macht alle ihre Handlungen vollkommen.
Aus dieser Quelle müssen die Oblaten schöpfen, denn das ist der Geist der Gottvereinigung. Mutter Maria Salesia trug oft den Namen des Erlösers auf ihren Lippen: Einswerden mit dem Erlöser, ihm in uns freie Hand lassen, sich der Bewegung des Erlösers überlassen… Diese Worte zeigen, dass Gottvereinigung mit dem Erlöser Ziel und Leben und das ununterbrochene Atmen ihrer hl. Seele war. Und genau das ist auch der Geist der Oblaten, wie er der des hl. Franz v. Sales war. Denn mit wem hat man diesen großen Heiligen mehr verglichen als mit Unserem Herrn?
Hat man von ihm nicht behauptet, er sei das vollkommenste Abbild des Herrn gewesen? Dieses göttliche Urbild war der Mittelpunkt, um den sich seine Seele, seine Affekte, ja sein ganzes Leben drehte. Das beweist klar, dass der Geist der Guten Mutter der echte, vollständige und vollendete Ausdruck des Geists unseres hl. Stifters war. Ein Oblatenleben bedeutet also ein Leben in intimer und beständiger Vereinigung mit dem Erlöser. Diese Einheit muss so stark sein, dass der Erlöser mit uns eins wird und wir selber darin ganz aufgehen, um dem Herrn freien Raum zu geben für seine Liebe. Das heißt aber Nachahmung des Tuns und Lassens unseres Herrn, sei es Gott oder dem Nächsten gegenüber. Darum konnte die Gute Mutter im Hinblick auf die Oblaten den Satz wagen: Man wird in ihnen von neuem den Erlöser dahingehen sehen… Einswerden mit ihm, ihn nachahmen, ja sich mit ihm identifizieren durch eine ganz innige Vereinigung, eine beständige Treue und einen vollständigen Tod der Natur: das ist die Berufung und der Geist der Oblaten des hl. Franz v. Sales.
II. Vereinigung mit Gott bedeutet aber zweierlei: erstens Vereinigung mit dem göttlichen Sein, mit dem inneren Leben Gottes, nach dem Ausdruck der Guten Mutter, und zweitens Vereinigung mit Gott durch seine Tätigkeit nach außen wie Schöpfung, Erlösung, Seelenheil usw. Die Vereinigung mit dem göttlichen Sein geschieht durch das betrachtende Gebet, die Praxis des Direktoriums und die Übungen des Ordenslebens. Diese Vereinigung basiert nicht auf dem Denken an Gott, sondern ist eine Disposition der Seele, ein Dauerzustand des Willens, der sie in ihrem gesamten Tun mit Gott verbunden hält. Kraft dieser Einheit ist die Seele immer losgeschält von sich selbst und ihren Affekten und von allem, was nicht Gott ist. Das geschieht weniger dank persönlicher Anstrengungen als vielmehr kraft einer Gabe Gottes, worin gerade die Berufung der Oblaten und der Salessöhne besteht. Durch eine beständige Abhängigkeit und eine vollkommene Losschälung von allen Dingen machen sie die Aktion Gottes in ihnen möglich und wirksam.
Die Vereinigung mit Gott auf Grund der äußeren Tätigkeit vollzieht sich durch die Hingabe der Seele an den Willen Gottes, der ihr Seinsgrund ist. Bei diesem Tun hängt die Seele in keiner Weise an den Handlungen an sich, sondern allein am Willen Gottes, der das Tun bestimmt. Die Schöpfung, die äußeren Dinge, werden für die Seele zu einem Mittel, mit Gott in Verbindung zu treten. Daher auch die tiefe Ehrfurcht, vor allem, was im Dienste des Menschen und des Ordensmannes steht. Die Seele sieht Gott in allem. Er umgibt sie und stellt sich sozusagen unter ihre Sinne.
Diese Gottvereinigung im innersten Tun entfaltet sich machtvoll in der Vereinigung mit Gott als dem Heiland und Erlöser: Und gerade darin liegt die Berufung der Oblaten. Das ganze Evangelium muss nach dem Wort der Guten Mutter neu gedruckt werden, damit der Gedanke des göttlichen Erlösers volle Wirklichkeit werde. Die Oblaten müssen bei dieser Gottvereinigung verschwinden, um dem Herrn den Platz zu überlassen und restlos von seiner Bewegung abzuhängen: handeln, wenn er handelt, sprechen, wenn er spricht, schweigen, wenn er schweigt. Denn darin besteht das Geheimnis der Werke, die dauern: alles durch Jesus machen, oder vielmehr den Heiland durch uns handeln lassen.
Daher die überraschenden Bekehrungen des hl. Franz v. Sales, überraschend an Zahl und mehr noch an Ausdauer und ungetrübter Beharrlichkeit. Alle übrigen Werke des Menschen, wo dieser von seinem Eigenen hinzugefügt hat, finden nicht das ungeteilte Wohlgefallen Gottes und verlaufen schließlich im Sande. Darin bestand das Leben der Guten Mutter, das muss als Programm den Oblaten ausfüllen, muss der Auftrag sein, den er berufen ist zu kopieren und zu verwirklichen.
