10. Ansprache zur Professablegung am 29.08.1886
Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters und nehmt das Reich in Besitz, das euch von Anbeginn der Welt bereitet wurde.
Meine Freunde, wie haben soeben eine gute und heilige Einkehr (Exerzitien) gehalten, in der ihr gelernt habt, das Leben zu leben, das Gott von euch verlangt.
Nach diesem Leben wird der Lohn, das ewige Reich bei Gott, euer Anteil sein. Versteht das wohl: Die Verheißung dieses Reiches gilt nicht nur für die Ewigkeit, sondern schon für diese Zeit, für die auf dieser Erde verbrachten Tage. Und heute rufe ich euch den Appell des göttlichen Erlösers zu, jene Worte, die er gerade an euch richtet: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters und besitzt das Reich, das euch von Anbeginn bereitet ist.“ Ich rufe euch schon jetzt in den Besitz der Genüsse dieses Königreiches einzutreten und nicht damit bis zum Tod und unserer Aufnahme in den Himmel zu warten. Nein, das gilt bereits für diesen Augenblick. Jawohl, ein Reich übergebe ich euch und mehr als das: Das Ordensleben macht euch zu Königen und versetzt euch in den Genuss eines Reiches. Ihr werdet den Glanz, die Macht und den Ruhm von Königen euer Eigen nennen.
Ihr werdet herrschen über euch selbst, eure Seele, werdet sie besitzen und lenken. Euer Wollen, eure Phantasie, euer Geist und euer Herz werden euch zu Willen sein. Ihr werdet Herren über euch selbst sein, absolute Herren. Weil ihr sie liebt und bejaht, nehmt ihr aus vollem und frohem Herzen eure Ordensregel an, die zur Richtschnur eures Lebens wird und die euch allezeit zur Herrin und Meisterin werden wird, weil ihr sie immer liebt und wünscht. Sie soll ja jetzt und immer über alle Kräfte eurer Seele herrschen, Triebfeder eures Wollens und Fühlens, Leiterin eures Handelns sein. Das sei euch ein Gesetz, ein Gebot, das mit Liebe durchwirkt ist. Ihr kommt, sie aus dem Mund eures Herrn, unseres hl. Stifters, und der Guten Mutter zu erlernen. Das ist die Regel, die euch zu Königen, mächtig und stark macht, weil sie ohne Einschränkung und Ausnahme über euch herrschen will und weil sie unseren Herrn selbst zu eurem König machen will.
Eine Macht gepaart mit Freiheit also: zwei Dinge, die hier auf Erden selten vereint vorkommen. Man ist nicht oft mächtig und frei zugleich, weder für sich noch für die anderen. Der Engel des Himmels lebt in Macht und Freiheit, atmet eine freie und grenzenlose Luft, die keine anderen Schranken kennt als den Willen Gottes und die sich über all das hinaus erstreckt, was die Menschen sehen und begreifen können.
Die beklagenswerten Seelen dagegen, die das Joch ihrer Leidenschaften nicht abschütteln können, wählen den Teufel zu ihre Herrn, und das ist ein grausamer und harter Herr, der sich nährt mit ihrem Schweiß und Blut, der sie hier auf Erden niederdrückt und drüben in die Hölle stürzt. Diese bedauernswerten Seelen schreien immer und überall: „Freiheit, Freiheit“, und schmachten doch selber unter einer schrecklichen Tyrannei. Der Teufel kann derlei Fesseln erfinden und schmieden, um sie an die Füße und Hände der heutigen Menschen zu schmieden. Entreißen wir uns doch solcher Sklaverei! Dann wird Gott euch auf Throne setzen und der Hl. Geist wird in euch herrschen und euch zu wirklichen Herren über euch selbst machen. Ihr werdet aber auch über die Welt herrschen, denn unser Herr wird euch durch das Ordensleben einen Teil seiner Macht über die Seelen, ja selbst über ihre Leiber abtreten. Es ist ja abgemacht, dass wir an die Worte des Evangeliums glauben, so wie sie uns übermittelt wurden und ohne eine andere Sinngebung als die, die unser Herr damit verband. Ihr werdet über die Seelen herrschen, für die ihr betet. Beherrscht ihr sie doch, indem ihr ihren Willen und ihre innere Einstellung nach dem Willen Gottes ausrichtet.
Die heiligen und abgetöteten Ordensleute haben alle Macht über die Seelen in Händen, die in ihre Nähe kommen. Schaut nur die Gute Mutter an. Sagt der hl. Thomas nicht, die Ordensleute halten die Kirche Gottes aufrecht und verleihen ihr Leben und Bewegung? Die Kirche braucht ihre moralische Autorität und ihre Hingabe. Sie legt den Ordensleuten die Pflicht der Selbstheiligung und des Eifers auf, damit sie ihr zu Hilfe kommen, indem sie ihr Seelen zuführen.
Welch ein schönes Reich das! Welch eine herrliche Berufung, die uns so viel Macht über die hl. Kirche und die Seelen einräumt! Wieviel Seelen legt sie in unsere Hände, um sie zu leiten und zu Gott zu führen! Welche Macht des Gebetes, des Willens und der klösterlichen Abtötung! Welch einen tiefen und heilsamen Einfluss übt unser Beruf doch über die Seelen aus! „Und seines Reiches wird kein Ende sein!“ Der Erzengel versprach der seligen Jungfrau, das Reich ihres göttlichen Sohnes werde kein Ende haben. Das eurige wird ebenfalls kein Ende kennen. Ihr übt es bereits jetzt aus, und ihr werdet es bis zum Himmel hin ausüben. Gott bedient sich der Propheten, der Apostel und der Ordensleute, um den Seelen seine Glorie und seine Glückseligkeit mitzuteilen. Was aber auf Erden geschieht, wird sich im Himmel fortsetzen. Ich übertreibe nichts, meine Freunde, sondern sage nur, was ist, und was die Kirchenlehrer sagen: Eures Reiches wird kein Ende sein! Ja, ihr werdet sogar über Gott herrschen: Gott hat sich der Stimme des Menschen unterworfen. Die Gute Mutter sagte mir: Man muss etwas Bestimmtes tun, um sich Gott gefügig zu machen! Die Seele des Ordensmannes macht sich dank ihrer klösterlichen Treue dermaßen zur Herrin über Gott, dass er nicht mehr weiß, was tun, um ihr seine Liebe zu beweisen. Es will mir scheinen, fügte sie hinzu, und ich sage es ganz leise, dass der liebe Gott soweit kommt, dass er nicht mehr weiß, was er mit uns anfangen soll. Bewahrt diesen Blick treuer Anhänglichkeit und uneingeschränkter Hingabe, den ihr ihm während dieser Exerzitien schenkt, bewahrt ihn treu, dann werdet ihr selbst über Gott herrschen…
Ihr herrscht über Gott in der hl. Kommunion. Sagt ihr ihm doch: Komm, und er kommt! Ihr, meine Freunde, die ihr Priester seid: Bei der hl. Messe steigt er in eure Hände hinab. Ihr habt sogar eine ganz andere Macht als die übrigen Priester. Erfuhr der hl. Johannes von Seiten Jesu nicht Worte und Blicke, die ihm Geheimnisse enthüllten, die unser Herr den anderen Aposteln nicht anzuvertrauen schien? Gewiss erfuhren auch die anderen Geheimnisse, die nur Freunden vorbehalten sind. Waren sie doch die intimen Freunde des Herrn. Doch es war der hl. Johannes, der beim Abendmahl wahrhaftig über das Herz des Meisters herrschte, es ist Johannes, der Vielgeliebte, der alles, was er wollte, erhielt und tat.
Diese Lehre, meine Freunde, ist in allen Punkten wahr. Das ist der Anteil, der der klösterlichen Treue zugedacht ist. Beginnt darum gut und setzt großmütig und eifrig fort. Stellt keine andere Überlegung an als diese. Eure Hingabe sei ungeteilt. Schöpft Mut und tretet entschlossenen Fußes ins Reich Gottes ein! Diese Königsherrschaft wird so vollständig sein, dass nichts euren Seelen entgleiten kann. Alles Gute wird ohne Einschränkung ihr Anteil sein.
Vernehmt darum mit dem ganzen Gehör eures Herzens und dem ganzen guten Willen, dessen ihr fähig seid, den Anruf Christi: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters und besitzt das Reich, das euch bereitet ist, seit Erschaffung der Welt…
Prägt euch dieses Wort gut ein, es sei eurem Geist als beständige Wahrheit gegenwärtig. Sie bleibe in euch und bewahre und belebe darin den Glauben und den Eifer. Möge es der Stein sein, der, auf dem Grund des Jordan eingelassen, der beständige und immerwährende Beweis dafür sei, dass ihr die wahren Söhne des Moses seid, die echten Söhne Gottes… „In Ewigkeit wirst du währen“. Amen.
